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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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nachgebaut.«
    Sie schoben mich in den äußersten Kreis ihres rekonstruierten
Slawentempels. »Folge den Ringen, bis du den Mittelpunkt erreichst.«
    Erwartungsvolle Blicke folgten meinen Schritten.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Broneslaw, als ich vom ersten Ring in
den zweiten wechselte. »Fühlst du dich normal?«
    »Ja. Warum?«
    »Da drinnen sind starke Kräfte am Werk. Empfindliche Menschen halten
das manchmal nicht aus.«
    Ich lief weiter, durch den zweiten Ring, den dritten, den vierten,
bis ich vor der Glaskugel stand.
    »Leg deine Stirn auf die Kugel.«
    Ich tat es.
    »Vorsicht! Nicht zu lange!«
    Ich richtete mich wieder auf.
    »Fühlst du es?«
    Konzentriert horchte ich in mich hinein.
    »Sag schon, was fühlst du?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Angenehme Leere.«
    Enttäuscht starrten sie mich an, wie einen Schüler, der eine Prüfung
vergeigt hat.
     
    Die Elektritschka katapultierte mich aus der
vorchristlichen Ära zurück in die Moskauer Gegenwart. Während der Fahrt saß ich
einem alten Mann und seinem Enkel gegenüber. Der Junge klebte mit der Nase an
der Scheibe des Zugfensters. Draußen zogen graffitibedeckte Fabrikfassaden
vorbei. »Linke Front!«, las der Junge vor. »Ksjuscha, ich liebe dich!« –
»Spartak Moskau!« – »Schwarzärsche raus!«
    Stolz beugte sich der Großvater zu mir. »Als er vier war, kannte er
alle Buchstaben. Jetzt ist er sieben und liest Puschkin!«
    Abends, in Wanjas Wohnung, zog ich einen Band Puschkin aus dem Regal
und las mich fest. Die ganze Nacht und den halben nächsten Tag lag ich auf dem
Sofa und flüsterte den Katzen russische Verse ins Ohr. Als ich abends vor die
Tür ging, hatte sich Moskau verändert. Ich suchte nach Puschkins Russland und
fand es nicht. Wo war seine Weltläufigkeit, wo seine Eleganz, wo waren
Puschkins stolze Europäer? Ich fuhr zum Leningrader Bahnhof und kaufte mir ein
Ticket nach Sankt Petersburg.

WIND
(Sankt Petersburg)
    So prunk und steh, Stadt Peters, hier,
    Gleich Russland, ewig standzuhalten.
    Versöhnen werden sich mit dir,
    Besiegt, selbst die Naturgewalten.
    (Alexander Puschkin, 1833)
     
    Peter der Große ist die Gottheit, die uns
ins Leben rief. Er war es, der Lebensatem in den kolossalen, aber in tödlichem
Schlummer erstarrten Körper des alten Russlands blies.
    (Wissarion Belinskij, 1845)
     
    Sturm! Bald bricht der Sturm los!
    (Maxim Gorkij, 1901)

Peter der Seekranke
    »Helfen Sie einem Blokadnik !«
    Der Mann blieb mit ausgestreckter Hand vor mir stehen. Er war alt,
steinalt. Eine eng gesetzte Schrift aus Runzeln bedeckte sein Gesicht. Sie
buchstabierte den Stolz des Überlebens.
    »Meine Rente ist ein Witz, aber glauben Sie, das macht mir etwas
aus? Nicht nach dem, was ich im Krieg durchgemacht habe!«
    Er lachte ein krähendes Lachen. Es sollte die Schrecken der
Vergangenheit übertönen, aber in meinen deutschen Ohren klang es wie ein
Vorwurf. Die Blockade, von der er sprach, war die Belagerung Leningrads durch
die Wehrmacht, Bomben und Hunger, neunhundert Tage lang.
    »Schuhsohlen haben die Menschen gegessen, Baumrinde, Lampenschirme.
Wir Kinder haben uns nicht auf die Straße getraut, aus Angst, gefressen zu
werden. Helfen Sie einem Blokadnik! «
    Ich drückte ihm einen Schein in die ausgestreckte Hand.
    »Gott schütze Sie! Und woher hat es Sie in unsere schöne Stadt
verschlagen?«
    »Aus Deutschland.«
    Seine Runzeln verkrampften sich. Einen Moment lang dachte ich, er
würde mich anschreien. Stattdessen sah er mich plötzlich genauso betreten an
wie ich ihn – wir waren ein Spiegelkabinett der Schuldgefühle.
    »Das ist alles lange her«, murmelte er. »Denken Sie nicht darüber
nach, junger Mann. Sehen Sie sich lieber unsere Stadt an, besuchen Sie unsere
Museen – bessere finden Sie auf der ganzen Welt nicht.«
    Und genau das tat ich.
     
    Das Boot ist winzig und riesig zugleich. Es wirkt zu groß
für das Spielzeug, das es ist, und zu klein für das Kriegsschiff, das es sein
will. Der Mast sähe auf offener See verloren aus, hier aber, im Petersburger
Marinemuseum, überragt er alle anderen Ausstellungsstücke. Vier Miniaturkanonen
säumen die Reling, man kann echte Kugeln aus ihnen feuern, wenn auch nicht sehr
weit. Selbst ein kleinerer Mann, als es der Bootsbesitzer war, würde an Bord
dieses Liliputseglers wie ein Gulliver wirken.
    Ein fünfzehnjähriger Junge namens Peter entdeckte das Holzboot 1688
im Geräteschuppen eines Landguts bei Moskau. Obwohl es halb verrottet war, sah
Peter gleich, dass

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