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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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mit stummem Entsetzen hingenommen wurde.
    Die Bärte aber waren erst der Anfang. Peter, der entschlossen war,
sein Reich von Grund auf umzukrempeln, ließ Trommler und Ausrufer durch Moskau
marschieren, um seinen Untertanen den neuen Takt vorzugeben: Ta-ta-ta-tam!
Schert euch die Bärte! Ta-ta-ta-tam! Legt die russischen Kaftane ab, zieht euch
praktisch an, wie die Deutschen! Ta-ta-ta-tam! Zählt die Zeit neu – heute endet
das Jahr 7207, morgen beginnt das Jahr 1700!
    Vor allem die Adligen fürchteten die täglichen Trommelwirbel. Der
Zar zwang ihnen eine neue Rangordnung auf, in der sie ihre gesellschaftliche
Stellung nur durch Verdienste um den Staat behaupten konnten. Wer etwas sein
wollte im neuen Russland, musste sich wie ein Schuljunge in Peters
neugegründeten Institutionen hochdienen, musste fremdländische
Fantasieuniformen und importierte Titel tragen: Zeremonijmejster, Kwartirferwalter,
Kapitenlejtenant.
    Besonders verhasst war der Dienst in Peters neuer
Lieblingsinstitution: der Marine. Warum ein Russe den Wind lieben sollte, war
schwer zu vermitteln in einem Land, in dem der Wind nicht nach Salz schmeckte.
Russland, schon damals der größte Staat der Welt, war ein gestrandeter Riese –
im ganzen Land gab es praktisch keine schiffbare Küste. Das Schwarze Meer war
noch in türkischer Hand, das Baltikum gehörte Schweden. Am östlichsten Rand
Sibiriens war zwar unter Peters Vater die Pazifikküste erobert worden, aber sie
war den westrussischen Handelswegen kaum näher als der Mond. Allein im Norden,
knapp unterhalb des Polarkreises, gab es den schiffbaren Hafen von Archangelsk,
doch selbst in den wenigen eisfreien Monaten führte der Seeweg nach Europa von
hier aus nur um das Nordkap herum. Angesteuert wurde Archangelsk nur von
europäischen Segelschiffen. Russische gab es nicht. Kein Russe wusste, wie man
sie baut. Das ganze Land litt unter Seekrankheit.
    Peter hielt das nicht auf. Aus Europa hatte er Schiffsbauer
mitgebracht, die ihm nun eine Flotte bauten, aus dem Nichts, auf dem Festland.
Als sie fertig war, segelte Peter an ihrer Spitze den Don hinab, Richtung
Schwarzmeerküste. Der Anblick dieser geisterhaften Prozession von Segelschiffen,
die plötzlich aus dem Binnenland auftauchten, überrumpelte die türkischen
Truppen an der Flussmündung derart, dass sie ihre Festung ohne große Gegenwehr
aufgaben. Als sie zurückschlugen, hatte Peter das Interesse am Schwarzen Meer
bereits verloren, stattdessen rang er nun den Schweden einen Streifen der
Ostsee ab und eröffnete Russland, einen zwanzigjährigen Krieg in Kauf nehmend,
den direkten Seeweg nach Europa.
    An der baltischen Küste, im windigen Mündungsgebiet der Newa, ließ
Peter eine Stadt aus dem Sumpfboden stampfen. Sankt Petersburg wuchs in den
fahlen Nordhimmel wie ein steinerner Tagtraum. Europäische Architekten
entwarfen Peters Paradies, russische Arbeiter bauten es. Die einen kamen
freiwillig und gingen reich entlohnt, die anderen kamen in Ketten, und ihre
Knochen stützen bis heute Sankt Petersburgs Fundamente.
    Der Zar erklärte seine Stadt zu Russlands neuer Hauptstadt. Um sie
zu bevölkern, siedelte er den Staatsapparat aus Moskau an die Küste um und
zwang Russlands einflussreichste Familien, Häuser in Sankt Petersburg zu bauen.
Widerwillig ließ sich die Landeselite in einer Stadt nieder, die so unrussisch
aussah, wie ihr Name klang. Nachts, wenn der Wind von der See her um die Häuser
jagte, muss mancher Petersburger ihn schlaflos verflucht haben, diesen salzigen
Westwind, der dem Zaren den Kopf verdreht hatte.
    Als Peter 1725 starb, war Russland eine europäische Großmacht, eine
Seefahrernation, ein gefürchteter Kriegsgegner und respektierter
Bündnispartner, ein technisch und wirtschaftlich rapide aufholendes Imperium
und der weitaus größte Staat der Welt. Vor allem aber war es ein schizophrenes
Land. Es war westlich und östlich zugleich, ein mentaler und geografischer
Zwitter. Peter, der Riese, hatte Russland überdehnt. Er hatte seine Landsleute in
die Lage versetzt, mit dem Wind und gegen den Wind zu segeln – aber kaum
entglitt ihm das Steuer, fingen die Passagiere an, über den Kurs zu streiten.
Die einen wollten weiter geradeaus, nach Westen, in jene Zukunft, die dem
Wahl-Europäer Peter vorgeschwebt hatte. Die anderen wollten zurück, in eine
russische Vergangenheit, die ostwärts hinter dem Horizont zu verschwinden
drohte. »Westler« und »Slawophile« nannten sich die beiden Denkschulen, in die
nach Peters

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