Mein russisches Abenteuer
mehr viele.« Er seufzte. »Ich weiß auch nicht, woran das
liegt. Sag du es mir. Was wollen die Menschen in Ägypten, was wollen sie in der
Türkei? Alle suchen sie irgendetwas, und keiner sieht, was vor der eigenen
Haustür liegt.«
»Vielleicht«, sagte ich, »wollen die Menschen reisen, weil sie es
früher nicht konnten.«
Wieder seufzte Wolodja. »Früher war es anders. Man konnte nicht
reisen, aber es wollte auch niemand reisen, wir hatten ja die Taiga. Die
Sibirier haben die Taiga geliebt. Und heute? Gott weiß, was sie heute lieben.
Ich verstehe die Menschen nicht mehr.«
»Wolodja«, setzte ich zögernd an. Es war dunkel, wir konnten uns
nicht in die Augen sehen, aber das machte es leichter, Fragen zu stellen.
»Warum sehen so viele Menschen in Russland nur das, was sie verloren haben?«
Es blieb lange still. Ich dachte schon, ich sei Wolodja zu nahe
getreten, aber dann hörte ich sein trockenes Lachen. »Vielleicht, weil wir
immer dachten, wir hätten nichts zu verlieren.«
Haben Bienen einen Fünfjahresplan?
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fiel Schnee.
Ungläubig starrte ich aus dem Zugfenster. Weiße Flocken tanzten zwischen kahlen
Birken. Ich war rückwärts durch die Zeit gereist, aus dem Moskauer Frühling in
den sibirischen Winter.
Mein Frösteln amüsierte sieben Sibirier, mit denen ich wenig später
unter freiem Himmel Schaschliks grillte. Wladimir, ein Bekannter von Alexander
Gurzew, dem Forstwissenschaftler aus Moskau, hatte mich in Krasnojarsk am
Bahnhof abgeholt und zu einem Ausflug zu seiner Datscha eingeladen. Seine
Freunde lachten über mein optimistisches Sommer-Outfit und erzählten, während
sie mich in dicke Lagen ausrangierter Arbeitskleidung hüllten, Winterwitze.
»In Sibirien kann man die Jahreszeit an den Daunenjacken ablesen. Im
Winter trägt man sie geschlossen, im Sommer offen!« – Gelächter. – »Kalt ist es
in Sibirien nur einen Monat im Jahr. Den Rest des Jahres ist es sehr kalt!« – Gelächter. – »Natürlich gibt es in Sibirien einen Sommer. Leider
musste ich an dem Tag gerade arbeiten!« – Gelächter. – »Kommt ein Afrikaner
nach Sibirien und fragt …« Und so weiter, ein endloser Schlagabtausch geografischen
Galgenhumors.
Abends schliefen wir, erwärmt von Witzen und Wodka, neben dem
Datscha-Ofen ein. Als wir am nächsten Morgen aufstanden, war der Winter vorbei.
In der Regentonne neben der Veranda schwammen letzte, trotzige Eisreste, aber
ihr Schicksal war besiegelt. Über Nacht musste die Temperatur um gut fünfzehn
Grad gestiegen sein. Ein angespanntes Sirren lag in der Luft, ein Druck wie von
einem lange zurückgehaltenen Niesen, als stünden tausend Knospen kurz vor dem
Bersten. Ein paar Stunden noch, dann würde ein abrupter Eintagsfrühling den
Winter hinwegfegen und die kürzeste aller Jahreszeiten einleiten, den
sibirischen Sommer.
Wladimir trat hinter mir auf die Terrasse. »Noch ein paar Tage«,
sagte er, »dann ist hier alles grün.« Es klang traurig. Wie jeder Abschied. Und
Wladimir war nicht der Typ, dem Abschiede leicht fielen.
Er war Mitte fünfzig und arbeitete für eine Waldschutzbehörde. Zu
Sowjetzeiten hatte er seine Arbeit gemocht. Inzwischen deprimierte sie ihn.
»Unsere Aufgabe besteht darin, zuzusehen, wie schlaue Kapitalisten die Taiga
abholzen und nach China verkaufen«, sagte er. Ein Hang zum Sarkasmus, über
Jahrzehnte gepflegt, hatte ihm scharfe Falten in die Mundwinkel gegraben. »Die
Chinesen sind klüger als wir. Sie nehmen den dummen Russen für ein paar
Flaschen Wodka ihre Bäume ab, machen Möbel daraus und verkaufen sie in den
Westen. Irgendwann wird die gesamte Taiga in europäischen Wohnzimmern stehen,
ohne dass wir eine Kopeke daran verdient haben. So funktioniert Kapitalismus in
Russland: Jeder denkt nur an sich, und am Ende bleiben wir alle arm.«
Wladimirs Datscha war die rettende Arche im Meer der
Marktwirtschaft. Im Garten hinter dem Haus hatte er alle Nadelhölzer der Taiga
versammelt: Kiefern, Lärchen, Tannen, Fichten, angepflanzt in biblischen
Paaren, je zwei Exemplare von jeder Art. »Pinus sylvestris«, murmelte er,
während er mir den Garten zeigte. »Pinus sibirica. Larix sibirica. Picea
obovata. Larix gmelini. Abies sibirica.« Wie ein Noah des Waldes wandelte er
unter seinen Kreaturen.
»Und das da?« Ich deutete auf ein frisch gepflügtes Feld hinter der
Datscha. In den Furchen standen junge Setzlinge. Wladimirs Gesicht verdüsterte
sich. »Das sind Artjoms Experimente.«
Artjom war
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