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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Wladimirs Stiefsohn. Ich hatte ihn am Vorabend kennengelernt:
ein unruhiger Mittzwanziger, in dessen Augen eine mühsam unterdrückte Wut
flackerte. Wladimir führte mich durch Artjoms Feld. »Pinus sibirica«, sagte er,
auf die Setzlinge deutend. »Sibirische Zirbelkiefer. Der Königsbaum der Taiga.
Artjom zieht sie groß und verkauft sie an Kunden in Moskau.«
    Die Setzlinge waren dreißig, vielleicht vierzig Zentimeter groß. Ich
versuchte mir vorzustellen, dass sie eines Tages in Moskau die Villen reicher
Rubljowka-Anwohner verschatten würden. Kein dummes Geschäftsmodell, dachte ich.
Wladimir aber schien wenig von den Ideen seines Stiefsohns zu halten. »Bäume
sind staatliches Kapital, keine Spekulationsobjekte«, sagte er. »Tausend Mal
habe ich Artjom das erklärt. Er will es nicht hören. Sagt, ich soll mich nicht
einmischen.«
    »Er versucht, sich etwas Eigenes aufzubauen«, sagte ich vorsichtig.
»Den Mut haben in Russland nicht viele, scheint mir.«
    Wladimir schnaubte. »Mag sein. Aber das ist nicht das Problem in
diesem Land. Das Problem ist, dass niemand mehr etwas Gemeinsames aufbauen
will.«
    Am anderen Ende des Felds arbeitete Artjom. Er hob Löcher für
frische Setzlinge aus. Eine Weile sahen wir ihm wortlos zu. Dann sagte
Wladimir: »Sieh zu, dass du vor Sonnenuntergang fertig wirst, Artjom, hörst du?
Lass die Pflanzen nicht wieder über Nacht draußen stehen.«
    Ich sah den Zorn in Artjoms Augen flackern. Abrupt warf er den
Spaten beiseite. »Fängst du wieder damit an?«, schrie er. »Ich habe es satt!
Misch dich nicht ein! Was weißt du schon?«
    Hasserfüllt starrte er seinen Stiefvater an. Wladimir mahlte nervös
mit den Kieferknochen. Ich suchte nach einem schlichtenden Satz, aber bevor mir
einer einfiel, rief eine Frauenstimme von der Datscha: »Männer! Es gibt Essen!«
    Nichts löst Spannungen so gut wie ein Teller Borschtsch. Es muss an
der Farbe liegen, dachte ich: Rote Bete stillt den Blutdurst. Während wir
unsere Suppe löffelten, beobachtete ich Wladimir und Artjom aus den
Augenwinkeln. Sie wirkten halbwegs ruhig. Im ewigen Drama der Väter und Söhne
war der Pausenvorhang gefallen, Darsteller und Zuschauer standen kauend am
Buffet.
    »Die Bienen«, rief Wladimir plötzlich. »Die Bienen kommen raus!«
    Er lief in den Garten. Artjom und ich folgten ihm. Um einen hellblau
gestrichenen Holzkasten schwirrten die erwachten Bienen. Schweigend beobachteten
wir ihren Tanz. Wladimir wies uns auf Muster im scheinbaren Chaos ihrer
Bewegungen hin. Ein Teil des Schwarms krabbelte in verschlungenen
Schleifenbewegungen um den Eingang des Stocks. »Das sind die Dispatcher«,
erklärte Wladimir. »Sie signalisieren den anderen, wo es Futter gibt.« Dann
wies er auf den Kasten. »Da drinnen sitzt das Zentralkomitee und gibt
Direktiven aus: So und so viel Nahrung für diesen und jenen Teil des Stocks.
Dann fliegen die Arbeitsbienen los und erfüllen die Vorgaben. Alles genau wie
im Sozialismus.«
    Artjom und ich mussten lachen.
    »Haben die Bienen einen Fünfjahresplan?«, fragte ich.
    »Natürlich«, sagte Wladimir. Er lächelte, aber man merkte ihm an,
dass er den Witz für fehl am Platz hielt.
    »Und eine Partei?«, fragte Artjom. »Ein Politbüro? Einen KGB ?«
    Wladimir wich den spöttischen Blicken seines Stiefsohns aus. Ohne zu
antworten, wandte er sich den Bienen zu. Zu dritt beobachteten wir schweigend
die wie von Geisterhand gelenkten Bewegungen des Schwarms. Plötzlich lag ein
totgesagter Traum in der Luft. Der Kommunismus schien greifbar, möglich,
wünschenswert, einen kurzen Frühlingsmoment lang.
    »Die Bienen sind schlauer als wir«, sagte Wladimir leise. »Sie
wissen, dass Planwirtschaft funktioniert. Und wir? Zerschlagen alles, was wir
aufgebaut haben.«
     
    »Planwirtschaft! Ha!«
    Artjom nahm mich am späten Nachmittag im Auto mit in die Stadt. Sein
Ärger war verflogen, er wirkte jetzt eher amüsiert. »Wladimir wird sich nie
ändern. Er ist zu alt, um sich zu ändern.«
    Draußen, hinter den Autofenstern, zogen dichte Nadelwälder vorbei,
durchzogen von einzelnen Birken. Die Landschaft war eine völlig andere als die,
die ich drei Tage lang aus dem Zug betrachtet hatte. Was ich jetzt sah, waren
die ersten Ausläufer der Taiga, jenes endlosen Walds, in dem Agafja Lykowa
lebte.
    Während der Fahrt erzählte Artjom von seinem Geschäft. Als ich
fragte, ob er auch Kunden in Krasnojarsk belieferte, starrte er mich ungläubig
an. »Zirbelkiefern verkaufen in Sibirien?« Er lachte.

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