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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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jüngeren Schwester reimte ich mir zusammen, dass
sie eine Weile außerhalb des Dorfs gelebt haben musste, in der Welt. Sie sprach
über diese Zeit nur andeutungsweise und mit bitterem Bedauern, wie über einen
Irrtum, der weit zurücklag. Die ältere Schwester schien das Dorf nie verlassen
zu haben.
    Es gab keine Kirche in Kilinsk, wie ich vermutet hatte. Die
Altgläubigen hier waren priesterlos. Ihre Gottesdienste feierten sie in den
Häusern. Genaueres erfuhr ich nicht. »Darüber können wir nicht sprechen«,
sagten die Schwestern.
    Beide waren entfernte Cousinen von Agafja Lykowa. Die Einsiedlerin
hatte sie zweimal in Kilinsk besucht. Beide Male hatten die Geologen sie im
Hubschrauber eingeflogen. Beim ersten Besuch war Agafja nur für ein paar Tage
geblieben, über Ostern, damals war ihr Vater noch am Leben. Die Altgläubigen in
Kilinsk, die selbst erst aus der Zeitung vom Schicksal ihrer Verwandten erfahren
hatten, nahmen Agafja auf wie eine verlorene Tochter. Sie wussten, dass ihr
Vater nicht mehr lange leben würde, sie beschworen sie, bei ihnen zu bleiben.
Agafja sagte weder Ja noch Nein. Als sie zurückflog, flossen Tränen.
    Kurz nach dem Tod des Vaters war Agafja zurückgekehrt. Der zweite
Besuch war schwieriger, es stand mehr auf dem Spiel. Agafja war nicht als Gast
gekommen, sondern als potenzielle Nachbarin.
    Im Hubschrauber hatte sie Trinkwasservorräte für drei Monate
mitgebracht. Sie erklärte, dass ihr beim ersten Besuch das Wasser nicht
bekommen sei. Die Menschen in Kilinsk begriffen es nicht. Sie tranken das
Wasser seit ihrer Geburt. Ihre Väter hatten es getrunken und ihre Großväter,
und die Väter der Großväter auch. Agafja rührte es nicht an.
    Die Autos störten sie. Die Stromleitungen störten sie. Im Himmel
waren ihr zu viele Flugzeuge und in den Häusern zu viel Licht. Die wenigen
Lebensmittel, die die Altgläubigen nicht selbst anbauten, sondern im Laden
kauften, schob Agafja zur Seite, wenn man sie ihr vorsetzte. Man diskutierte
über Glaubensfragen, über winzige Details, die in Kilinsk niemand in Frage
gestellt hatte, bevor Agafja auftauchte.
    Am Ende boten sie ihr an, ihr eine eigene Hütte zu bauen, für sich
allein, außerhalb des Dorfs, im Wald. Bevor Agafja in den Hubschrauber stieg,
versprach sie, darüber nachzudenken. Sie kehrte nie zurück.
    Zwanzig Jahre waren seit diesem letzten Besuch vergangen. Den beiden
Schwestern standen Tränen in den Augen, als sie von Agafja sprachen. Es war
nicht leicht gewesen mit ihr, sie hatten sich gestritten. Aber sie war eine
Verwandte. Sie war eine Glaubensschwester. Und jetzt war sie allein.
    Am Ende drückten mir die Schwestern einen handgeschriebenen Brief
und ein großes Glas Sonnenblumenöl in die Hand. »Sag Agafja, dass wir es selbst
gepresst haben, dass es nicht aus dem Laden kommt«, baten sie mich. »Sonst
nimmt sie es nicht.«
    Ich versprach es ihnen.
    »Jemand muss dich zurück nach Taschtagol fahren«, sagte die jüngere
Schwester.
    Ich nickte. Die vage Hoffnung, in Kilinsk übernachten zu können,
hatte ich längst aufgegeben.
    Während wir auf das Auto warteten, zeigten mir die beiden eine junge
Zirbelkiefer, die in einer Ecke des Gartens stand. Sie sah unglücklich aus.
Ihre Spitze hing schief zur Seite, die Nadeln waren rötlich verfärbt.
    »Agafja hat sie mitgebracht«, sagte die jüngere Schwester. »Wir
wissen nicht, was mit ihr los ist. Sie will hier keine Wurzeln schlagen.«
     
    Drei junge Männer fuhren mich zurück nach Taschtagol. Sie
waren gleichaltrig, etwa Mitte zwanzig. Alle drei waren altgläubig, aber keiner
von ihnen sah seine Zukunft in Kilinsk. Sie arbeiteten auswärts, als Fahrer,
als Mechaniker, als Wachmann, sie pendelten zwischen zwei Welten. Man konnte
jedem von ihnen am Gesicht ablesen, wie weit er sich von der Welt entfernt
hatte, aus der er kam. Einer trug einen ungestutzten Vollbart. Der Zweite hatte
einen Alibi-Kinnbart. Der Dritte war glattrasiert.
    Grinsend sah der Bartlose mich an. »Weißt du, was uns drei
verbindet?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Unsere Sünden!«
    Der Bartlose und der Kinnbart verfielen in dröhnendes Gelächter. Der
Vollbärtige grinste verlegen. Entschuldigend legte ihm der Bartlose die Hand
auf die Schulter. »Nimm’s mir nicht übel.« Dann wandte er sich zu mir.
Erklärend deutete er auf den Vollbärtigen. »Seit er geheiratet hat, sündigt er
nicht mehr viel.«
    Wir sprachen über Agafja. Die drei waren zu jung, um sich an ihren
Besuch in Kilinsk zu

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