Mein Sanfter Zwilling
streckte ihm meine Hand hin. Er saß da, niedergeschmettert, ermattet, mit geröteten Augen und rissigen Lippen, mit einem kalten Blick. Er ergriff meine Hand und führte sie an seine Lippen, küsste sie immer wieder. Ich zog ihn zu mir, und er stieg in die Badewanne. Ich teilte mit ihm das Wasser, das Kostbarste, was ich in dem Moment besaß und vielleicht je besessen habe.
– Was willst du da tun? Was soll dir das bringen?
Er gab mir keine Antwort.
– Ich hätte alles dafür gegeben, wenn …
– Lass gut sein, Ivo. Lass uns schlafen, ich bin so müde.
Er legte die Hände vors Gesicht und verstummte. Ich war aus der Wanne gestiegen und hatte mir ein Handtuch um die Hüften gewickelt, stand wie angewurzelt vor ihm und konnte mich nicht rühren.
Er saß einfach da, unter dem Wasserstrahl, und versteckte sich vor der Welt, wie ein kleiner Junge, der sich die Hände vors Gesicht hält und denkt, er sei unsichtbar.
Hätte ich weinen können, hätte ich für dich geweint, Ivo. Hätte ich damals die Kraft gehabt, dich gänzlich in mir aufzunehmen, so stark zu sein wie das Meer, hätte ich nicht gezögert. Hätte ich an jenem Morgen dein Gesicht sehen können, hinter deinen Händen, nachdem du Frieden stiften wolltest und nur weiteren Schaden angerichtet hattest, hätte ich dich dazu gebracht, mir alles zu sagen, was in deinem Kopf vor sich ging, und vielleicht, vielleicht wärst du jetzt hier. Ich weiß, was du mir an jenem Morgen sagen wolltest, was dein Körper, indem er mich verletzte, mir verraten wollte. Ich weiß, was du gesagt hast, ohne es gesagt zu haben. Ich weiß es jetzt, und ich könnte so laut schreien, so laut, dass die Welt für eine Viertelsekunde stehen bleiben würde. Aber, ja, aber.
Ich suche doch das Wasser im Leben. Das Weite und Weiche und Tiefe und Schwere und alles Tragende. Das Meer, Ivo.
Ich schlief ein und träumte von der blassen Frau, die mich in diesen letzten Wochen öfter im Schlaf heimsuchte. Am Meer, in Tuljas Haus, in dem nicht ausgebauten Dachzimmer. Mit dem schönen Kind. Mein Schlaf und sie freundeten sich miteinander an. Manchmal glich sie Gesi, manchmal Emma, manchmal niemandem und einmal mir selbst. Aber immer trug sie ein Brautkleid. Eins, wie ich es gern getragen hätte, hätte ich keine Angst vor Prunk gehabt. Und um ihren Schleier, der immer ein wenig feucht und immer ein wenig verschmutzt war, beneidete ich sie heimlich auch.
22.
Sie fuhren wegen des Mannes hin, des Mannes, der Lados traumwandlerische Frau und die zauberhafte Tochter das Leben gekostet hatte, der vielleicht nichts davon wusste oder vielleicht doch. Der heute vielleicht ganz und gar ein anderer Mensch war oder nicht. Der in den Kriegstagen einfach nur die falsche Frau geliebt hatte oder auch nicht.
Die Gedanken daran verursachten mir Übelkeit. Und diese Übelkeit wiederum hinderte mich daran, Ivo daran zu hindern, zu fahren. Die Gedanken daran irritierten mich, machten mich unruhig, betroffen, ängstlich. Wovor hatte ich solche Angst? Was genau beunruhigte mich an dem Gedanken an diese Fahrt? Unabhängig davon, dass in Abchasien offiziell immer noch »Waffenstillstand« mit den Georgiern herrschte und die Einreise, besonders für Lado, tatsächlich sehr gefährlich werden könnte, gab es etwas anderes, was mir weit mehr Angst bereitete als die reale Besorgnis, die mit der Fahrt verbunden war.
Ich drehte mich im Kreis, ich kam nicht voran, es fehlten weiterhin einige Puzzlesteine für das Gesamtbild.
Diese Suche blockierte mich, machte mich blind, blind, das zu sehen, was so offensichtlich war.
Glaubte Ivo wirklich, über seinen Freund seine eigenen Fehler korrigieren zu können? Was genau wollte Ivo mit einer fremden Geschichte reparieren?
Denn eines war mir bewusst: dass Ivo nicht die gleichen Antworten suchte wie Lado.
Der Juli war mörderisch heiß über Tiflis hereingebrochen. Es roch nach Staub und nach heißem Asphalt. Eltern verließen mit ihren Kindern die Stadt und flohen in ihre Dörfer und Ferienhäuschen, in die dafür angemieteten Appartements, zu den Großeltern oder Verwandten. Die Hitze lähmte und legte die Stadt lahm.
Die Telefonate mit Theo wurden zunehmend erschwert durch Marks gnadenlosen Ton mir gegenüber; ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Ich musste bald zurück, um mindestens die Fakten zu klären und mit Mark über Theo zu sprechen. Ich musste um meinen Sohn kämpfen, doch fühlte ich mich ohnmächtig in meiner passiven Rolle, alles erschien mir
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