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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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Stella, ich kann dich nicht verstehen, du flüsterst ja …
    – Ist er … nicht … von?
    – Hey, was ist passiert, ich drehe gleich durch, wenn du den Mund nicht aufmachst! Haben sie angerufen?
    – Buba ist nicht von Lado … Er ist nicht sein Sohn.
    – Was?
    – Weiß er das?
    – Wovon redest du?
    – Weiß Lado das?
    – Das weiß ich nicht. Woher weißt du es?
    – Ich weiß es. Es geht um die Kinder, nicht um Lado. Ich habe es übersehen. Es geht um die Kinder. Es ging schon die ganze Zeit um sie. Darum, dass sie es ihm gesagt hat, dass Maja ihre Mutter verraten hat, dass sie starb, aber ein anderes Kind überlebte, dass Buba überlebte. Ich kann es dir nicht erklären, die Kinder, die Kinder, sie waren die Hauptfiguren in dieser Geschichte, um sie ging es, nicht um die Erwachsenen.
    – Stella, bitte, beruhige dich. Ich rufe Buba an, schnappe ihn mir und komme dann zu dir.
    – Nein, nicht mit dem Jungen. Nein, das kann ich nicht.
    – Stella, was hat das …
    – Es war Ivos Idee, den Russen aufzusuchen, er will irgendwas wissen, Scheiße!
    Ich legte auf. Salome rief mehrmals zurück, aber ich ging nicht ran. Ich stand wie angewurzelt da, ich konnte nicht mal das Licht anschalten und starrte in die dunkelste Ecke im Raum. Es war nie um Lado gegangen. Es war der Junge, der mir die geheimen Orte der Stadt gezeigt hatte, der mit mir, Cola nippend und heimlich rauchend, beim Künstlerfriedhof gelegen und mir von seinen Sorgen und Freuden erzählt hatte, dessen Kopf ich gestreichelt hatte, der an meinen Haaren herumgespielt hatte, den ich so mochte, weil ich glaubte, so Theo näher zu sein.
    Und es war das Mädchen, das Porträts der Familienmitglieder malte, das dem Verrat, den es beging, ohne überhaupt das Ausmaß eines Verrates abschätzen zu können, es nur erahnend, ertastend, zum Opfer fiel. Es ging um sie.
    Es ging um uns.
    Es war Ivo. Es war Ivo, der mein Haar berührte und der mit mir im Gras lag, der mir Lieder vorsang und von seinen Träumen sprach. Es war Ivo, der mit Bubas schlaksigem Körper und viel zu tiefer Stimme zu mir sprach. Und es war ich, die die niederschmetternden Worte aussprach, die unser beider Leben änderte.
    Die Wanduhr tickte und erinnerte mich wieder an die Zeit, die aufgehört hatte zu existieren. Sie erinnerte mich an mich. Sie erinnerte mich daran, dass er weg war.
    Ich konnte wieder einen Schritt nach vorne tun, und ich ging in die Küche, schaltete das Licht an und dachte darüber nach, was ich tun könnte. Ich würde ihn nicht einholen können, auch wenn ich gleich losfuhr. Ich brüllte los. Ich schrie und schrie, ich schrie mir die Seele aus dem Leib, doch es half nichts. Ich setzte mich auf den Boden und schlug gegen die Dielen, ich kratzte und robbte hin und her. Ich suchte eine sichere Stelle, eine Stelle, die Zuversicht versprach. Ich verließ die Wohnung und kaufte eine Flasche Wodka. Die Menschen am Kiosk, die mich mittlerweile als die merkwürdige Deutsche, die zu dem merkwürdigen Deutschen gehörte, eingeordnet hatten, starrten mich an. Ich verabschiedete mich nicht, marschierte wieder in den Hof. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte ich in die Wohnung zurück.
    Ich trank und schlug immer wieder mit der Faust gegen die Stirn, irgendwas musste mein Kopf doch hervorbringen, womit ich Ivo zurückholen konnte.
    Ich hatte das Wichtigste übersehen, ich war blind gewesen.
    Ich trank aus der Flasche und drehte das Radio so laut auf, dass meine Gedanken zu zittern anfingen. Ich zündete mir eine Zigarette an und setze mich neben den alten sowjetischen Kühlschrank, der fast genauso laut war wie mein Radio. Ich stützte mich mit den Handinnenflächen auf den Fußboden und beugte mich immer wieder nach unten, meinen Körper anspannend, wie bei einem Gebet in der Moschee, um irgendetwas erfassen zu können. Einen einzigen klaren Gedanken.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so da kauerte, bis das Bild anfing, sich zu vervollständigen. Das Radio hatte die Uhr übertönt, und das Zeitgefühl hatte ich schon längst verloren. Ich spürte eine gewisse Taubheit in meinem Becken. Eine alte, satte Frauenstimme sang My Funny Valentine , und ich musste an den kalten Tag denken, jedes Geräusch hatte ich wieder im Ohr, jedes Geraschel, konnte ihn regelrecht riechen, jede Brise, die den Fischgeruch vom Hafen hertrug. Das ferne Tuten der Schiffe, die matschige Erde.
    Es war Ende Oktober, und für die Jahreszeit war es extrem kalt, man kündigte einen Sturm an und warnte vor

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