Mein Sanfter Zwilling
nicht falsch verstanden werden. Ich möchte an der Stelle einen herzlichen Dank an alle aussprechen: Für mein geborgtes Leben danke ich euch allen. Und ganz besonders danke ich dir, Stella. Für das Leben, das ich mir von dir leihen durfte. Danke, vielen Dank.
Er stand auf, leerte in einem Schluck sein Glas, entschuldigte sich, verbeugte sich dabei demonstrativ und verließ den langen Tisch. Tulja eilte ihm bestürzt hinterher, und Leni schüttelte empört den Kopf. Frank seufzte, und ich blieb einfach nur erstarrt sitzen. Obwohl ich wusste, dass von mir nun eine Klärung zur Rettung des Abends erwartet wurde. Und auf einmal machte es mir nichts aus, wieder im Mittelpunkt des Geschehens, der anrollenden Katastrophe zu sein; auf einmal machte es mir nichts aus, von allen angestarrt, von allen inspiziert zu werden. Ich war ruhig, die Wut war verflogen, und ich dachte einfach nur an Theo, der friedlich im alten Kinderzimmer neben Alex und Anton schlief und nichts, absolut nichts in dieser Welt vermisste. Dieser Gedanke schien beruhigender, als jeder Aufruhr an diesem Tisch mich aufregen konnte. Ich blieb also reglos sitzen, als wäre ich in keinster Weise betroffen. Nur Hannas verängstigte Blicke erinnerten mich ab und zu an meine absurde Lage.
– Es ist nicht einfach. Ich bin ungemein froh, dass er da ist, und ich möchte, dass wir alle froh sind. Wir halten zusammen, darauf kommt es doch an. Und, Stella, Stella, hörst du mir eigentlich zu?
Mein Vater hatte sich zu mir gebeugt, und in Lenis Augen sah ich sein stolzes, herrisches Spiegelbild widerspiegeln.
– Ich möchte nicht, dass irgendwas wieder losgetreten wird. Hörst du? Es ist sein gutes Recht, hier zu sein und uns Fragen zu stellen. Uns Fragen zu stellen, ich betone das: uns . Nicht dir.
Vater redete noch lang über unsere Familie und über unseren Zusammenhalt, und in seinem Bemühen um den Schein von Frieden, für den er so viele Frauen, Jahre und Flaschen gebraucht hatte, erweckte er nur mein Mitleid. Er tat alles dafür, dass seine Welt nicht ins Wanken geriet, und alle, auch die inzwischen an den Tisch zurückgekehrte Tulja, schienen ihn darin zu bestärken, aber ich wusste, dass ich nichts unternehmen würde, was diese Vergangenheit aufhalten könnte, die sich so schnell, so leicht in die Gegenwart gefressen hatte. Innerlich empfand ich fast so etwas wie Schadenfreude darüber, über die Unannehmlichkeiten, über die provozierende Art von Ivo, über die Fragen, die kommen würden und auf die keiner Antworten geben wollen würde. Plötzlich wünschte ich mir, diesen Schleier, der über uns allen so fest zu liegen schien, zu zerreißen, endlich frische Luft einzuatmen, endlich alles rauszubrüllen, was man zu brüllen hatte.
Ivo war nicht mehr aufgetaucht, und keiner von uns machte Anstalten, ihn zu einer Rückkehr an den Tisch zu bewegen. Frank war nun zum Alleinunterhalter geworden. Bis Tulja irgendwann ihre Gitarre hervorholte und in einer vergessenen oder unidentifizierbaren Sprache Lieder sang, von denen sie behauptete, sie seien persisch-zigeunerisch, die Sprache ihrer Vorfahren.
Wir tranken weiter, und die kurze Trübung des Abends schien vergessen. Ich genoss die Gesichter, ich genoss Tuljas kratzige Stimme, Vaters herrischen, immer lauter werdenden Ton, Hannas verlorenes Lächeln, meine Schwester mit ihrem schweigenden, immer leicht beleidigten Ehemann. Ich aß die Reste vom Apfelkuchen, ich dachte zufrieden an den schlafenden Theo, ich hörte das Knarren der alten Holzdielen im Flur und das Gekreische des Märzwinds.
Gegen zwei Uhr morgens zogen sich Leni und ihr Mann ins Gästezimmer im Dachgeschoss zurück; Vater saß noch eine Weile mit Tulja auf der Terrasse, und sie lieferten sich, wie immer, ein Wortduell, indem sie einander liebevoll neckten, tadelten, kritisierten und schon aus Prinzip nie zu einem Konsens fanden. Gegen drei Uhr morgens bot Tulja Espresso an. Aber da war Vater schon dabei einzunicken und ging ins Wohnzimmer im ersten Stock zum Schlafen. Ich hatte mich bereit erklärt, im Kinderzimmer bei meinem Sohn und meinen Neffen zu schlafen.
Ich wollte das Licht auf der Terrasse ausmachen, als ich Ivos Silhouette im Garten erblickte. Reglos stand er dort, rauchte eine Zigarette, seine Gestalt schien mit dem Rauch zu verdunsten. Ich überlegte nicht lang und ging auf ihn zu, eine Decke um die Schultern gewickelt, die Frank auf dem Stuhl liegen gelassen hatte.
– Und was willst du von mir?, fragte ich ihn direkt.
– Du
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