Mein Sanfter Zwilling
Alle mussten lachen, sogar Hanna fühlte sich nicht wie ein Fremdkörper in unserer Familie an, an diesem unserem Tisch, dem Ort aus unserer Vergangenheit, den wir für ein paar Stunden in die Gegenwart entführt hatten. Tulja verstand es, nach dem Abendessen immer abstrusere und ungewöhnlichere Getränke herbeizuzaubern, einen Pflaumencognac oder einen Lakritzlikör, den ich zusammen mit Leni mit geschlossenen Augen und zugehaltener Nase kichernd kostete.
Für diese kurze Zeit war es wahr, dass wir eine Familie waren und dass es sich gut anfühlte, eine Familie zu sein.
Franks übliche gespreizte Tischrede fiel erträglich knapp aus. Er brachte sogar einen Toast auf Gesi aus, die er ganz unironisch als seine verehrte Exfrau bezeichnete, Gesi, normalerweise ein Tabuthema für ihn. Dem Toast wurde später auch kein hämischer Kommentar hinterhergeworfen. Ivo war zwischen Tulja und Leni gesetzt worden, die er permanent umarmte und küsste, er rief die Jungs zu sich, scherzte hinter vorgehaltener Hand mit ihnen und trank, wie früher, Unmengen von Wein, ohne dass man ihm etwas anmerkte. Ich sah manchmal zu ihm hinüber und wendete sofort den Blick ab, wenn er es bemerkte. Es schmerzte, seine Anwesenheit so klar wahrzunehmen, so deutlich vor Augen zu haben. Seine Anwesenheit, die für mich gleichbedeutend mit noch stärkerer Abwesenheit war als die Jahre, in denen er tatsächlich fort gewesen war. Sogar Leni und ihr Mann, Jan, der sich uns später angeschlossen hatte, verhielten sich ausgesprochen liebenswürdig. Als Mark spät anrief und ich zum Telefonieren in die Küche ging, fühlte ich in mir tiefen Frieden.
– Und, was hast du jetzt vor?, fragte auf einmal Leni mit einem zusammengekniffenen Auge, wackelte dabei kokett mit ihrem Schnapsglas vor Ivos Kopf herum, schluckte seinen Zigarettenqualm hustend hinunter. Auch Frank hatte angefangen zu rauchen, und das legitimierte alles.
– Wie meinst du das?, fragte Ivo und nippte, entwaffnend lächelnd, an seinem Glas.
– Na ja, bleibst du hier oder ziehst du wieder weiter?
Alle sahen sich an, und Tulja legte den Arm wie schützend um seine Schulter, um noch einmal seine Rolle als Ehrengast hervorzuheben.
– Ich weiß es nicht. Ich denke, das hängt ganz von Stella ab.
Ich verschluckte mich, wollte so tun, als hätte ich nichts gehört; aber alle anderen hatten es gehört und sahen irritiert zu mir hinüber. Ich sah ihn fragend an.
– Von Stella?, sagte Leni betont schnippisch und öffnete ihren Mund zu einem breiten Lächeln. Ich hätte sie erwürgen können.
– Na ja, ich denke, wir zwei haben da so einiges zu klären.
Ich versuchte aus seiner Stimme herauszuhören, ob es am Alkohol oder an seiner puren Lust am Provozieren lag, dass er jetzt damit kommen musste.
– Jetzt nicht dieses Thema, bitte, erwiderte Tulja beschwörend, und ich beschäftigte mich mit dem Rest vom Braten, der noch auf meinem Teller lag, vertrocknet und nutzlos, bis mir irgendwann klarwurde, dass dieser Braten mich sehr an mich selber erinnerte.
– Muss das jetzt sein?! Auch Frank hatte laut aufgestöhnt und seinen Wein mit einem Schluck ausgetrunken. Ich finde das fehl am Platz, Ivo. Das solltet ihr beide, wenn überhaupt, unter euch bereden.
– Wieso, wenn es früher uns alle anging, dann werde ich das jetzt uns allen doch nicht vorenthalten. Ich meine, früher wurde darüber doch offen diskutiert, und jetzt soll man plötzlich diskret damit umgehen?
– Ivo, lass das!
Endlich gelang es mir, einen Satz zu formulieren, und ich sah ihn an. Sein Blick war eine merkwürdige Mischung aus Vergnügen, Verachtung und Ignoranz.
– Es ist vorbei. Schluss, aus! Wenn jemals etwas diskutiert wurde, dann nur, weil ihr einander nicht unbedingt guttatet. Ich habe mich nicht eingemischt, solange es gutging. Aber es ging nicht gut. Ihr habt euch regelrecht zerfleischt. Deswegen. Die Familie hat immer hinter euch gestanden. Das weißt du, Ivo.
Vaters Ehrlichkeit zog mir den letzten Fleck Erde unter den Füßen weg, und ich wünschte, ich wäre niemals hergekommen. Ich musste etwas sagen, aber ich war so wütend, dass es mir die Sprache verschlug.
– Meinst du?, fuhr Ivo vergnügt fort und schenkte sich Wein nach, wobei er nicht vergaß, Tuljas Glas zu überprüfen, und die Flasche schmunzelnd zurückstellte, als er sah, dass es noch gefüllt war.
– Ich habe da meine Zweifel. Aber um das zu klären, müsste man viel früher anfangen, und das würde uns den Abend versauen. Ich möchte
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