Mein Sanfter Zwilling
ich im falschen Film bin.
– Du weichst immer aus, immer gleitest du auf deinem Schlitten davon.
– Wenn du allein bist, ich meine, ohne deinen blank polierten Typen und von deinen Muttersorgen befreit, ja, allein, denkst du manchmal an den Nachmittag?
– Hör auf!
– Tust du das?
– Du wirst es nicht kaputtmachen, ich werde nicht zulassen, dass du mich noch einmal kaputtmachst. Hörst du?
Meine Stimme war laut geworden und sie zitterte.
– Ich versuche, die Dinge wieder heil zu machen. Das ist alles, Stella, flüsterte er und berührte meine Hand. Ich wollte sie wegziehen, aber seine kalten Finger umklammerten mein Handgelenk, und ich gab nach. So standen wir da wie zwei ungeschickte Teenager und starrten vor uns hin. In die Nacht. Ins Dunkle.
– Ich liebe sie, wiederholte ich den Gedanken laut. Ich sagte es mir immer wieder, dass ich sie liebte: meine zwei Männer, meinen Mann, mein Kind, und mein Zuhause, mein Leben. Ich liebe sie – als wäre der Satz ein Anker, den ich auswarf.
– Ich glaube es dir. Ich will dir deine Liebe nicht wegnehmen, ich will nur meine alte wiederhaben.
– Lass uns reingehen …, wiederholte ich und löste meine Hand aus seiner.
– Ich will mein Leben wieder, insistierte er unnachgiebig.
Er hatte sich vor mich gestellt und versperrte mir den Weg. Ich sah seinen Körper und seine scharfen, glatten Gesichtszüge – markant und fremd. Nichts an ihm, das von den Tissmars hätte stammen können, nichts uns gleichend.
Ich kämpfte gegen die Tränen und merkte auf einmal, dass ich fror – vor Kälte, vor Angst, vor zu viel Ivo.
– Warum bist du bloß zurückgekommen?, fragte ich, er bewegte sich auf mich zu und griff nach meiner Schulter.
– Um dich zu erinnern. Um mich zu erinnern.
Ich machte mich von ihm los und rannte ins Haus.
Neben Theos warmem, kleinem Körper liegend, zwischen zwei Kinderkörpern fand ich wieder zu mir und legte meine Hand um Theos Taille. Ich hoffte, ein wenig von seinem Frieden abzubekommen.
5.
Meine Liebe zu ihm glich einem seltenen, kostbaren Wein, den man nicht öffnen möchte, sondern die Flasche hütet, aufbewahrt und sich insgeheim auf das Trinken freut, das Kosten jedoch immer weiter aufschiebt, für einen besonderen Anlass aufspart, der aber nie eintritt, denn kein Anlass scheint gut genug für diesen Wein. Und man bewahrt und bewahrt ihn, bis eines Tages aus irgendeinem nichtigen Grund die Flasche zerbricht und der Wein auf den Boden läuft. Unwiderruflich weg ist. Was bleibt, ist eine Mischung aus Reue, Trauer, der unbestimmten Sehnsucht nach etwas Verlorenem und der Hoffnung, genau diesen Wein eines Tages irgendwo wiederzufinden und ihn sofort mit nur einem Schluck zu leeren.
An dem Tag, an dem ich Ivo zum ersten Mal vorgestellt wurde, war ich etwa in dem Alter, in dem Theo ihn zum ersten Mal sah. Ich war gerade in die erste Klasse unserer pseudoliberalen Schule gekommen, ein recht agiles, altkluges Ding, das mehr als alles andere den gut aussehenden und damals noch erfolgreich bei einem linken Verlag tätigen Vater anhimmelte.
Wir lebten in Hamburg, Eimsbüttel, einem Viertel, wo man mit seinem Geld nicht protzte und dunkelblaue VWs fuhr, obwohl man heimlich für rote Cabrios schwärmte, die man sich durchaus hätte leisten können. Das Haus gehörte meiner Mutter, und es gehörte nach der Scheidung von Vater noch immer ihr, aber sie hatte es ihm gelassen, ihm, der bis zu seinem Lebensende noch Geld in Raten an sie hätte abbezahlen müssen, damit das Haus in seinem Besitz käme, was er natürlich nicht tat, weil er kein Geld hatte und weil unsere Mutter in ein anderes Land gezogen war und das Haus selbst nicht mehr bewohnen würde.
Ein wunderschönes altes Haus mit romantischen schnörkeligen Verzierungen an den Fassaden, das den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überlebt hatte.
Meine Schwester, vier Jahre älter als ich und schon auf dem Gymnasium, war anders als ich. Sie war ein Mama-Kind, sehr gewissenhaft und diszipliniert, ein wenig hochnäsig und verwöhnt und nahm Reit-, Orgel- und Ballettunterricht; die Fahrten zwischen Reit-, Orgel- und Ballettunterricht gehörten zu Mutters Aufgaben, die damals noch als freie Mitarbeiterin eines eher harmlosen Chemiekonzerns arbeitete und deswegen genügend Zeit hatte, ab und zu auch zu Demonstrationen gegen Tierversuche und Kapitalismus zu gehen, meinem Vater und seinen linken Einstellungen zuliebe. Was ihr im Nachhinein aber immer peinlich war, denn Mutter entstammte einer
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