Mein Sanfter Zwilling
schließlich in diesem Leben glücklich fühlte.
Ich war die Letzte. Vor der Dorfeinfahrt hatte ich noch einige Zeit im Feierabendstau gestanden. Vor dem Haus parkten die Autos von Leni und Papa. Schon im Vorgarten konnte man den Lärm hören, den Lenis Jungs verursachten; Theo presste sich an mich und versteckte das Gesicht in meinem Mantel.
– Müssen wir diesmal wieder hier übernachten?
Ich wusste, warum er dies fragte. Er liebte den Komfort wie sein Vater, verabscheute jede noch so kleine Veränderung in seiner sicheren, warmen Welt. Er liebte Tulja, er liebte ihre kleinen Verrücktheiten, und er liebte seinen Großvater mit seinen großspurigen Monologen, aber er hasste das kleine Holzbett, in dem er schlafen musste, und er hasste den kalten Flur zur Dusche. Ich spürte in mir Wut aufsteigen, ich fühlte mich hilflos und verraten. In dem Moment erschien mein Vater in der Tür und winkte uns zu.
– Es ist für eine Nacht, Theo. Und es ist mir wichtig, dass du bei mir bist. Okay?, flüsterte ich ihm zu, als wir auf meinen Vater zugingen, der sehr aufrecht, zwar mit unübersehbarem Bauch, aber nach wie vor elegant und selbstgefällig, im Hauseingang stand und mich triumphierend anlächelte, wie er das immer tat, als hätten er und ich ein gemeinsames Geheimnis, als wüssten wir beide genauestens übereinander Bescheid – weil wir uns im Grunde ähnlich waren. Ich wusste nie, ob ich mich über seine aufgesetzte Haltung mir gegenüber freuen oder traurig sein sollte. Bei Franks Anblick hatte Theo schnell seine Bedenken wegen der ihm bevorstehenden Nacht vergessen und kletterte wie ein kleiner Koalabär seinen Rumpf empor. Frank tätschelte ihn, küsste seinen Kopf und setzte ihn dann ab, weil schon die zwei ältesten Jungen von Leni grölend um die Ecke gerannt kamen und ihn in Beschlag nahmen.
Es roch nach Braten, und ich hatte kurz die Vorstellung, dass heute Weihnachten und dies vielleicht nur ein ganz gewöhnliches Weihnachtsfest sei. Aber Tulja stürzte schon auf mich zu, ob lachend oder heulend, war nicht auszumachen, und nahm mich so fest in ihre Arme, dass ich kaum noch Luft bekam. Sie roch wie gewohnt nach einem altmodischen Parfüm, dessen Namen sie mir nie verraten hatte; Tuljas Geruch war unverwechselbar. Trotz ihres Alters waren ihre Haare rabenschwarz, wie das ihrer Großmutter und Urgroßmutter – Letztere angeblich eine persische Königin –, kein einziges graues Haar hatte sich daruntergemischt, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihre Brille baumelte an einem Goldkettchen auf ihrer Brust, und ihre dunkelrot angemalten, etwas unwirklich erscheinenden Lippen öffneten sich breit:
– Jetzt sind wir endlich wieder alle zusammen!
Tuljas Küche war sehr groß, mit einem langen Holztisch und zwei ebenso langen Holzbänken. Überall sah man Blumen in großen Tonvasen, die ganze Küche stand voller Schalen, Teller, Mehlbeutel, Salzfässchen und kleiner Fläschchen mit Gewürzen, die Tulja, wie die Quitten für ihre Marmelade, selbst anbaute, trocknete und abfüllte. Wir alle hatten diese kleinen Fläschchen mit Tuljas getrockneten Gewürzen in unseren Küchenschränken. Ich erinnere mich sogar, einige dieser Fläschchen in der Küche meiner Mutter in Newark gesehen zu haben.
Frank war verschwunden, und Ivo war nicht gekommen, mich zu begrüßen. Leni half in der Küche, war fleißig dabei zu backen, Anton saß in unserem Kindersitz – er war für den uralten Kindersitz, in dem auch ich gesessen hatte, eigentlich zu groß – und malte bunte Striche auf eine Kreidetafel.
Hanna, die Freundin meines Vaters, hatte sich im hintersten Winkel der Küche niedergelassen; sie war keineswegs die Nutte, für die sie meine Schwester hielt, sondern eine schwächliche, liebevolle, etwas dümmlich wirkende Frau. Vater hatte sie im Krankenhaus kennengelernt – sie arbeitete dort als Pflegerin, als Vater wegen einer Lungenentzündung behandelt wurde. Sie war kinderlos und aufopfernd, bewunderte Frank, begann eine Beziehung mit ihm und nahm von Beginn an seine wechselnden Frauen widerspruchslos hin. Sie wirkte in der Ecke verloren, Tulja hatte ihr wohl diesen Platz angewiesen, ihr einen Aschenbecher hingestellt und sie zum Nichtstun bestimmt.
Ich sah in den verwilderten, überwucherten Garten hinaus: Vor der Küche erstreckte sich eine weitläufige Terrasse mit einer Hängematte, Spielsachen lagen überall herum, in der Ferne kreischten Kinder. Unter einem Apfelbaum am hinteren Ende des Gartens
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