Mein Sanfter Zwilling
schuldest mir noch was, antwortete er, als hätte er den ganzen Abend auf meine Frage gewartet, und bewegte sich auf mich zu. In der Stille der Nacht konnte man das Rauschen des Meeres hören, und ich atmete die schwere, salzige Luft ein wie ein Heilmittel gegen meine Angst.
– Ich schulde dir überhaupt nichts. Ich habe abbezahlt, wenn du unbedingt bei diesen Begriffen bleiben willst. Und ich habe keine Lust auf diese Spiele. Ich verbiete es dir, dich noch einmal in mein Leben einzumischen.
– In dein Leben, in dein Leben, Stella? Hast du dich mal gefragt, ob es wirklich dein Leben ist, ob du wirklich ach so selbstbestimmt und unabhängig dein Leben lebst? Das Leben, was dir gehört, nur dir?
– Was soll das? Was denkst du dir eigentlich, wer du bist?
– Ich will die Wahrheit. Die schuldest du dir und mir, Stella.
In dem Augenblick begriff ich, worum es hier ging, und ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen. Ich hoffte, es läge nur daran, dass ich zu viel getrunken hatte. Ich hoffte vergeblich. Es ging nicht darum, was alle wussten. Es ging darum, was keiner wusste.
– Was willst du von mir?
– Weißt du es nicht mehr? Soll ich dir auf die Sprünge helfen, Stella?
– Du bist betrunken. Lass uns reingehen.
– Nein, sag, dass du es weißt. Ich bin da, weil ich wissen will, ob ich das, was ich als mein Leben gelebt habe, dir schulde. Ob das Leben, das du führst, vielleicht mir gehört? Ob wir vielleicht eines Tages zu uns zurückfinden können, zu uns, die wir hätten werden sollen.
– Ivo, bitte, hör auf.
– Ich kann nicht …
Zum ersten Mal, seit er da war, erkannte ich in seiner Stimme eine Art Verletzung, die mich verstummen ließ. Ich sah, wie er seine Zigarette in der feuchten Erde ausdrückte, ich spürte, wie er sich mir näherte, wie er mit der Schulter kaum merklich meine streifte. Ich fühlte in mir den lange vergessenen, triebhaften Impuls aus der Zeit, als ich ihn anhimmelte, den Impuls, der über Jahre meine Tage und Nächte bestimmt hatte, ich wollte ihn anfassen. Ich wich zurück. Dass der Wunsch wieder so stark war, machte mir Angst. Eine Weile standen wir still Seite an Seite und lauschten in die Nacht, auf die Geräusche des Meeres, hinter uns das schlafende Haus und die Geschichten seiner schlafenden Bewohner.
– Was hast du jetzt vor?, fragte ich.
– Ich möchte, dass du mir hilfst, sagte er.
– Aber wie soll ich dir helfen, Ivo?
Wir waren ehrlich. Zum ersten Mal seit unserem Wiedersehen sprachen wir ehrlich miteinander.
– Die Nummer am Tisch war völlig unmöglich.
– Es wissen doch eh alle, Stella. Mach dir nichts vor.
– Was wissen die? Was, verdammt? Du machst mich verrückt!
– Sie wissen zum Beispiel, dass ich nur wegen dir hier bin, dass ich nur wegen dir weggegangen bin. Und sie wissen, dass du nicht da bist, wo du sein solltest, und sie wissen, dass ich nicht da bin, wo ich sein sollte. Sie wissen es, weil auch keiner von ihnen da ist, wo er sein sollte. Es betrifft uns also alle.
– Du irrst dich, Ivo. Jeder von uns hat sein Leben. Jeder macht sein Ding. Du kannst nicht behaupten, du wüsstest, was für jeden von uns besser ist; wir sind alle erwachsen.
– Genau, wir sind erwachsen, und was fehlt, ist der Anfang, die Kindheit.
– Psychologisiere jetzt bitte nicht.
– Scheiß auf psychologisch oder esoterisch oder was auch immer. Das ist doch Müll, das sind doch debile Ausreden. Wir sind nun mal alle mit derselben Scheißgeschichte verbunden, da kannst du nicht einfach den Anfang irgendwo im Wald suchen gehen.
– Ivo, es reicht!
– Wir sind alle vom Ende losmarschiert, und nun drehen wir uns im Kreis. Schau doch Frank an, schau dir Leni an mit ihrem verkrampften Getue, Tulja, die in ständiger Angst lebt, dass ihr heiles Knusperhäuschen vom Sturm davongeweht wird. Schau dich an!
– Ja, was ist mit mir? Sag es mir: Was genau ist denn an meinem Leben falsch? Du tauchst hier nach sieben Jahren auf, bist noch nicht mal eine Woche da, und schon weißt du alles besser, schon weißt du, wie mein Leben ist. Du kennst mein Leben doch überhaupt nicht. Ich habe eine Familie, die ich liebe, kapier das endlich, und ich habe einen Job, und ich …
– Welchen Job? Über kleine Provinzausstellungen in Sparkassen berichten?
– Du bist widerlich! Schau du dich selbst an. Vielleicht stimmt etwas mit deinem Leben nicht.
– Richtig. Mit meinem Leben stimmt vieles nicht, und ich habe die letzten Jahre eine nicht mehr zu vertreibende Ahnung, dass
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