Mein Sanfter Zwilling
angesehenen und reichen Medizinerfamilie, die an Wochenenden Hauskonzerte gab und die Sommerferien auf Sylt verbrachte.
Um sich von ihrem Elternhaus zu emanzipieren, verliebte sie sich in unseren freigeistigen Vater, einen Studenten der Politikwissenschaften und der Soziologie, der radikale Pamphlete verfasste und sich selbst als Kommunist verstand, in Wahrheit aber gar nicht so wahnsinnig radikal und kommunistisch war, wie er es gerne gewesen wäre.
Kurz gesagt: Ich, am Vater hängend, war das sozialistische Kind in Gummistiefeln, die Vater aus Prag mitgebracht hatte, und Leni das Ärztekind, der Mutter ein Pony namens Willow schenkte. Zu einem gewissen Zeitpunkt waren die elterlichen Illusionen geerdet, die Befreiungsversuche meiner Mutter der Bürgerlichkeit gewichen, und Vater opferte die sozialistische Karriere der seines Schwanzes und verbrachte auch den Sommerurlaub in Italien nicht mehr, wie geplant, in einem besetzten Haus. Mutter hatte aufgehört, aus Höflichkeit zu demonstrieren, dagegen Geschmack am Geld gefunden. Sie kletterte die Karriereleiter zur Abteilungsleiterin empor, sich plötzlich damit rechtfertigend, dass man seiner Herkunft nicht entfliehen könne, vor allem da die ihre durchaus Vorteile aufweise im Unterschied zu jener ihres Mannes, der, vaterlos aufgewachsen, eine gescheiterte Schauspielerin als Mutter hatte. Dessen Blut ein Mischmasch aus Osten und Europa war, der eine Tante hatte, so skurril und von zweifelhaftem Ruf, dass sie fast zu den Sehenswürdigkeiten des Ortes zählte, in dem sie wohnte.
Manchmal frage ich mich, ob alles genauso gekommen wäre, wäre Leni an meiner Stelle gewesen? War es einfach Zufall, dass ich das sozialistische, aufsässige Papa-Kind geworden war, als Mutter und Vater die Kindererziehung gleichberechtigt aufteilen wollten, allerdings keineswegs mit der Absicht, die Kinder völlig unterschiedlich zu erziehen? Und wäre zufällig ich das Kind für die Förderzirkel und maßgeschneiderten Kleidchen gewesen – hätte ich meinen Vater zum Haus am Hafen begleitet und hätte ich Ivo kennengelernt?
Vater, den ich vergötterte und mit dem ich bis spät in die Nacht zusammenblieb, arbeitete bei einem Verlag, der linke Undergroundliteratur verlegte, die aber sehr wenig Geld einbrachte. Er korrigierte, knüpfte Kontakte, reiste herum und schrieb. Ich war gerade in die Grundschule gekommen, und er schleppte mich einfach überallhin mit. Nach der Schule holte er mich mit dem Rad ab, da er in der Nähe arbeitete, und wir radelten zu seinem Büro, blieben bis spätabends zusammen, bei Freunden, hockten in Kneipen bei hitzigen politischen Diskussionen und kühlem unpolitischem Bier. Dadurch wuchsen wir umso mehr zusammen, denn es galt, Mutter zu belügen: Sie durfte nicht wissen, dass ich mit sechs schon Moped gefahren war, Bier getrunken und Erwachsenenlieder über die körperliche Liebe gesungen hatte.
Ich lebte in Vaters Welt und liebte sie sehr, aber bereits zu dem Zeitpunkt hatte diese Welt angefangen, sich zu spalten; denn immer öfter kam Mutter nach einem Streit mit rotem Gesicht und angeschwollenen Augen in unser Zimmer, um dort zu übernachten. Die Welt hatte begonnen, sich in zwei Lager zu spalten. Ich hielt aus Angst vor Willow und Ballett zu Vaters verrauchten Kneipen, Hinterhofverlagen und lauten Kumpels.
In der Zeit wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass man als Mensch zerbrechen kann wie eine Porzellantasse. Nach den Sommerferien, von denen wir, um die letzten Reste des Familienglücks ringend, ein paar Wochen in Italien verbracht hatten, fing es an.
An einem noch warmen Herbsttag nahm mich Vater zum ersten Mal mit zu ihr. Sie wohnte in einem Häuschen mit großem Garten über dem Hamburger Hafen, bei den Landungsbrücken, wo die Museumsschiffe ankerten und von wo aus sich eine lange, immer windige Promenade erstreckte, mit aneinandergereihten Fischbuden, verirrten Touristen und ineinanderverschlungenen Paaren, immer eingehüllt in den salzigen Geruch des Meeres und das laute Hupen der Frachtschiffe. In der Mitte des schmalen Abhangs, der von der anderen Seite zum Rotlichtviertel und zu unzähligen kleinen Imbissen und Cafés führte, lag das Haus mit dem kleinen, umzäunten Garten mit den verwilderten Himbeerbüschen und bunten Schaukelstühlen, die bei jedem Windstoß ächzten und stöhnten, bewacht von einem riesigen schwarzen Hund.
Er stellte sie mir vor, eine Kollegin von ihm, sagte er, und sie bot mir ein Stück Traubenzucker an, daran erinnere
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