Mein Sanfter Zwilling
ich mich noch genau, es war Traubenzucker mit Zitronengeschmack.
Sie ließen mich eine Weile mit dem Hund allein, und ich erkundete mit ihm die Umgebung. Es war ein sonniger Nachmittag, und es roch nach Wasser, nach Meeresnähe. Nach einer Weile kamen Vater und die Frau wieder aus dem Haus, lachend und mit Gläsern in der Hand. Ich hatte Vater lange nicht mehr so gelöst sehen, und ich lachte einfach mit.
Von da an gingen wir von seinem Büro nicht mehr zu seinen Freunden in die Kneipe, sondern radelten zusammen zu Emma. So hieß die Frau, Emma. Weder Tante Emma noch Frau Soundso, einfach nur Emma.
Sie war klein und zierlich, hatte immer knallrote Lippen, wirkte blass und kränklich, was vielleicht daran lag, dass sie ihr dunkelbraunes Haar zu einem strengen Knoten gebunden trug und die runden Haselnussaugen immer leicht verschleiert waren. In ihrem Blick erkannte ich nichts. Ihre Art, ihre Körperhaltung gaben nichts preis. Sie war weder schön, noch war sie nicht schön. Es gab nichts Besonderes an ihr. Wenn ich heute zurückdenke, dann ist es, als hätte jemand mit dem Schwamm über ihr Gesicht gewischt und ihre Züge, ihre Augen ausgelöscht – wie die Reste von der letzten Stunde auf der Schultafel. Aber sie war nett zu mir, gab mir reichlich Süßigkeiten und ließ mich tun, was ich wollte, uneingeschränkt durch den Garten wandern, mit dem Hund spielen und sogar fernsehen, was Mutter uns verbot.
Während ich mich so mit mir beschäftigte, waren Vater und Emma im Haus. In einem der dunklen, muffigen Zimmer am Ende des Ganges, und wenn sie herauskamen, strahlten beide um die Wette.
Ich nahm auch als Sechsjährige durchaus wahr, dass wir mehr Stunden bei Emma verbrachten als zu Hause und dass das nicht in Ordnung sein konnte, denn Mutter durfte man davon nichts erzählen. Aber ich war ein Kind und fühlte mich wohl, Vater fühlte sich wohl, und vorher hatten wir ja auch stundenlang in irgendwelchen Kneipen gehockt. Es würde alles schon seine Richtigkeit haben.
An einem nieseligen und feuchten Oktobertag radelten wir wie immer den kleinen Abhang zu Emmas Haus hoch und sahen sie am Tor stehen und uns zuwinken. Neben ihr stand ein schmächtiger Junge mit abstehenden Ohren und verschlossenem Gesicht.
– Ivo, mein Sohn. So stellte Emma ihn mir vor. Und das ist Stella, Franks Tochter. Ich weiß, ihr werdet Freunde. Komm, Ivo, sei nicht so schüchtern, gib ihr die Hand, sag Hallo.
Ivo nickte nur kurz und verschwand ins Haus. Der Hund bellte und folgte ihm schwanzwedelnd.
In mir stieg Panik auf, ich ahnte, das ganze Süßzeug, der Garten, gar die Aufmerksamkeit des Hundes, das Fernsehen und die liebevollen Blicke der Erwachsenen für meine Artigkeit waren in Gefahr – um all das würde ich von nun an konkurrieren müssen. Auch mochte ich keine Jungs, und schon gar nicht solche, die so finster dreinblickten und abstehende Ohren hatten.
Die erste Zeit sprach er kein einziges Wort mit mir, ich zog mich zurück, unsicher versteckte ich mich im Garten, wenn er im Haus war, oder geisterte ziellos durch das dunkle Wohnzimmer, wenn er draußen mit dem Hund spielte. Ich langweilte mich, der Fernseher wurde von ihm in Beschlag genommen, und der Hund klebte nur noch an ihm; es gab zwar noch Traubenzucker und derlei Aufmerksamkeiten, aber das konnte mich nicht trösten. Trauer überkam mich, und das ferne Lachen meines Vaters erschien mir wie eine Verhöhnung. Ich schwoll an wie ein Luftballon – vor Enttäuschung und Ärger über meinen verlorenen Thron. Als der Winter kam, tat die zunehmende Kälte ein Übriges: Der Garten als ein Fluchtort kam nun nicht mehr in Frage.
– Wo warst du denn vorher, als ich schon da war und du nicht?, fragte ich ihn, als wir zwangsweise zusammen vor dem Fernseher saßen und gelangweilt vor uns hin starrten.
– Bei Papa.
– Und wo ist dein Papa?
– In der Schweiz. Er hat viel Arbeit.
Dann schwiegen wir wieder, und mein Blick wanderte vorsichtig zu ihm. Er war ein Stück größer als ich, sein mürrischer Ausdruck schien wie im Gesicht festgewachsen zu sein. Seine Augen erinnerten mich sofort an die seiner Mutter, nur dass die heller und offener waren, aber nie ganz offen, und auch Ivos Augen waren wie mit einem Nebelschleier verhangen. Er hatte eine lange Nase und schiefe Zähne. Seine Haltung hatte etwas zutiefst Erwachsenes und Bestimmendes, ich wagte nicht, ihm zu widersprechen oder mit ihm um ein Territorium zu kämpfen, das ich wochenlang als mein eigenes angesehen
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