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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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hatte.
    Plötzlich stand er auf und bot mir an, mir sein Zimmer zu zeigen. Ich hatte es noch nie gewagt, bis ans Ende des Flurs zu gehen, denn dort waren mein Vater und Emma eingeschlossen. Aber bestärkt von Ivos Mut, folgte ich ihm durch den schmalen Flur, und wir betraten das Zimmer, das neben dem von Emma und Vater lag. Es war kleiner und etwas heller als die anderen Räume im Haus, die ich gesehen hatte. Es gab nur ein kleines Bett und einen grünen Schreibtisch. Autos standen ordentlich auf einem Regal aufgereiht, andere Spielsachen fehlten. Vielleicht hatte ich ein wenig enttäuscht gewirkt, denn er fragte mich, ob ich denn viele Spielsachen hätte.
    – Meine Schwester hat jede Menge davon, ich habe auch viel, aber nicht so viele wie sie, sagte ich und setzte mich auf sein Bett.
    Durch die Wand hörten wir ein Quietschen und danach ein knurrendes Geräusch. Ich schrak auf, Ivo drehte sich abrupt um und horchte. Zum ersten Mal nahm ich etwas wahr, das mir die Gefahr deutlich machte, ohne sie zu begreifen, die Gefahr des Nachmittags, das Dunkle, Verbotene, Grausame – die Gefahr, die in dem Haus umherwanderte, die Dielen krachen ließ, durch die Fensteröffnungen hereinplatzte wie ein Unwetter. Ich sah Ivo an und spürte die Gefahr in seinen Bewegungen, in seinen kleinen, zusammengeballten Fäusten, in seinem ernsten Gesicht.
    – Mama?, rutschte es ihm heraus, und im selben Moment schien ihm seine Angst peinlich zu sein, und er verstummte. Es kam keine Antwort, stattdessen hörte man aus dem anderen Zimmer ein leises Kichern.
    – Woher kennen sie sich?, fragte ich ihn leise und erhob mich vom Bett. Ich trat auf ihn zu, wir blieben Seite an Seite stehen – ich war ihm noch nie so nah gekommen.
    – Ich weiß nicht.
    – Papa hat mir gesagt, dass sie Kollegen sind.
    – Quatsch!
    – Was meinst du, was sie da tun?
    Ich stellte die Frage in der Hoffnung, von Ivo eine Lüge als Antwort zu bekommen.
    – Was Erwachsene halt tun, wenn sie zusammen sind.
    – Aber sie sind nicht zusammen.
    – Klar sind sie das.
    – Aber …
    – Sie gehen nicht zusammen.
    – Sie gehen nicht, sie liegen.
    Ich sah seine Wut. Seine Pupillen waren geweitet, und er schnaufte, versuchte, stark zu sein.
    Später auf dem Nachhauseweg am Wasser entlang fragte ich Vater, woher er sie kenne. Er antwortete, sie seien Kollegen und Freunde. Ich gab nicht nach, sagte, sie sei ja nicht im Verlag, wieso seien sie dann Kollegen? Weil sie für einen anderen Verlag arbeite. Und wo sei Ivos Vater, wollte ich wissen. Er sei im Ausland und habe keine Zeit. Und wieso seien dann Emma und Ivo nicht bei ihm? Weil er dort arbeite und Emma hier, und Ivo jetzt in Hamburg zur Schule gehen würde.
    Es dauerte einen Moment, in dem wir stumm durch die einsetzende Dunkelheit fuhren und ich die Antworten meinen Fragen zuzuordnen versuchte, bevor ich ihn fragte, ob er denn vorhabe, Emma zu heiraten. Da hielt er brüsk an und setzte mich ab. Dann nahm er mich in den Arm und presste meinen Kopf an sein Gesicht. Er streichelte mich und küsste meine Wangen. Er tröstete mich, ich solle keine Angst haben, es sei alles gut, ich sei sein Mädchen, für immer, immer. Leni auch und Mama liebe er auch sehr, sehr, und es wäre alles gut. Ich solle mir keine Sorgen machen. Er würde sich nur gut mit Emma verstehen, Mama sei mit ihrer neuen Arbeit so beschäftigt, er brauche Freunde, damit er nicht allein sei – und so weiter.
    Ich wusste, dass er log, aber ich ließ es zu. Ich wollte belogen werden, die Gefahr, die ich an dem Nachmittag in der Luft gerochen hatte, war nicht verschwunden, ich spürte sie wie ein Nachtgespenst auf mich lauern, sie hatte Krallen und schrie nach mir.
    – Stella, Stella? Hörst du uns nicht?
    Mark stand in Boxershorts vor mir, mit Badeschaum im Haar und sah mich verwirrt an.
    – Oh, entschuldige. Habt ihr nach mir gerufen?
    – Ja, Theo schreit die ganze Zeit nach dir.
    – Ich muss in Gedanken gewesen sein.
    Ich saß am Laptop und versuchte die letzten Korrekturen an dem Artikel zu machen; morgen war der letztmögliche Abgabetermin, und ich wusste, ich würde keine Gnadenfrist mehr bekommen, aber genauso gut wusste ich, dass der Artikel nicht gut war.
    Theo war in der Badewanne, Mark saß auf dem Hocker neben ihm und erzählte ihm irgendwelche Geschichten, die er beim Baden immer erfand, und Theo lachte und klatschte mit den Händen im Wasser.
    – Mama, guck, rief er begeistert, als er mich sah, und tauchte mit zugehaltener Nase und fest

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