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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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begriff. Nicht weil er unfähig war dazu, sondern weil er es so beschlossen hatte; er hatte eines Tages die Entscheidung getroffen, bestimmte Dinge nicht verstehen zu wollen. So wie ich die Entscheidung getroffen hatte, Dinge aus meiner Erinnerung zu verbannen, die mir den Boden unter den Füßen wegzogen.
    Es war eine Kluft zwischen uns, ein tiefer Abgrund tat sich auf, und die Brücke darüber hatte ich gesprengt, mit den Worten, die ich gerade ausgesprochen hatte.
    – Das Problem ist nicht, dass ich eine Affäre mit einem Mann hatte, der mit mir zusammen aufgewachsen ist. Es ist etwas anderes, es ist mehr.
    Mark bemühte sich um einen geduldigen, ein wenig väterlich aufgesetzten Ton, der mich noch mehr aufregte, als er nachfragte, was genau denn das Problem sei.
    – Ich habe mit ihm geschlafen, sagte ich und sah ihn an.
    Er öffnete leicht die Lippen, als wollte er einen gut vorbereiteten, politisch korrekten Satz sagen, der mich dazu bringen würde, ihm ruhig und zahm nach Hause zu folgen. Dann wich die Beherrschung von ihm, und in dem Moment bereute ich meine Dummheit und senkte den Blick. Er aber starrte mich wortlos an, er sah mich die ganze Zeit an und schwieg. Auf einmal stand er auf, nahm die Autoschlüssel und verließ die Bar.
    Ich blieb allein am Tresen zurück, ich blickte um mich, ich war der letzte Gast. Ich bestellte noch einen Drink, und je träger und matter mein Körper wurde, desto klarer arbeitete mein Hirn.
    Der Barkeeper warf mir ab und zu aufmunternde Blicke zu, wagte jedoch nicht, mich rauszuschmeißen, ein Streit unter Eheleuten, vor allem wenn der Ehemann ein Stammgast ist, da zeigt man Rücksicht. Und ich blieb und blieb. Irgendwann taumelte ich in die Lobby und bat den Portier, im Pacific anzurufen. Ivo war tatsächlich da und versprach, mich abzuholen.
    Alles befand sich jetzt im freien Fall. Ich stand auf der Straße und suchte ihn in den vorbeifahrenden Autos. Er kam mit einem Taxi und lief auf mich zu. Ich lachte. Er fragte nichts. Das Erste, worum ich ihn bat, war eine Zigarette. Er gab mir die, die er sich gerade angezündet hatte.
    – Du bist betrunken, stellte er amüsiert fest, nachdem ich hustend und keuchend den ersten Zug genommen hatte.
    – Ich bin klarer denn je, antwortete ich und folgte ihm. Er hielt ein Taxi an, wir fuhren in eine Bar in St. Pauli. Ich kann mich nicht mehr an sie erinnern; ich weiß, dass es voll und laut war und dass wir auf der Fensterbank in einer Ecke saßen und dass ich weiter Martini trank. Er sagte wenig, beobachtete mich, und einmal berührte er mein Knie. Ich sah auf seine Hand hinunter, die höher wanderte, und presste die Beine zusammen. Mir war schwindlig.
    – Soll ich dich nach Hause fahren?, fragte er, und ich schüttelte den Kopf. Wir fuhren in sein Hotel. Er zog mich aus und trug mich ins Badezimmer. Er ließ mir ein Bad ein und legte mich in die Wanne. Das Wasser war nicht warm genug, und ich winselte. Er rieb mir Shampoo in die Haare und duschte mir den Schaum ab. Es brannte, und ich jammerte. Ich bat um weiteren Alkohol, er verweigerte ihn mir. Irgendwann zog ich ihn zu mir herunter und küsste ihn. Er gab nach und wurde nass. Ich war erregt und gleichgültig, etwas in mir schrie danach, alle Grenzen zu vergessen; ich nahm trotz meiner Betrunkenheit wahr, dass der Morgen schrecklich sein würde, ich wusste, dass ich dann auf dem Boden aufschlagen würde. Noch fiel ich, es war ein wunderschönes Gefühl, ein Gefühl, als würde ich fliegen, als gäbe es keine Schwerkraft, irgendwann würde ich aufprallen und in tausend Stücke zerspringen, vielleicht würde auch gar nichts zurückbleiben.
    Alle Nächte, die ich mit Ivo verbracht hatte, glichen einem Kampf. Mir ist unklar, wie ich in meinem betrunkenen und ermatteten Zustand eine solche Kraft, eine solche Gier aufbringen konnte, diesen Kampf aufzunehmen. In seinem schäbigen Hotelbett.
    Ich nahm ihn mir, ich nahm seinen Körper, eroberte seine Schroffheit, seine aufgesetzte Nonchalance der Welt gegenüber, Schicht für Schicht entblößte ich sie.
    Ich hielt seine Hände fest, und meine Lippen wanderten über seine Leisten, über seine Brust, über seinen Bauchnabel. Er verweigerte sich, wie er sich immer geweigert hatte, Geschenke anzunehmen. Aber ihm blieb keine Wahl. Ich befriedigte ihn mit der Hand und sah ihn dabei an. Sah sein müdes Gesicht, seine halb geschlossenen Augen und seine leicht geöffneten Lippen; sah, wie er gegen sich selbst ankämpfte und wie allein er in

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