Mein Sanfter Zwilling
selbstvergessen den ganzen grauen Aprilsonntag, der ungewöhnlich kühl war und ungewöhnlich ruhig.
Es war das Geräusch des Schlosses und das Knarren der Dielen im Flur, die mich aus dem Schlaf rissen. Kurze Zeit später stand Mark vor mir, Hände in den Hosentaschen, unrasiert und mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck. Ich habe keine Vorstellung davon, was er erwartet hatte, ob er gedacht hatte, dass ich bereits ausgezogen wäre oder dass ich mit verheulter Miene am Tisch sitzen würde; mit Sicherheit hatte er nicht erwartet, mich ruhig in unserem Ehebett schlafend anzutreffen.
– Wo warst du?, fragte er und fixierte mich aus müden Augen. Er hat sich bestimmt betrunken letzte Nacht.
– Ich war bei Leni.
– Du lügst.
Ich weiß nicht, warum ich ihn anlog, aus Stolz, aus Angst, ein letzter Selbsterhaltungsinstinkt vielleicht. Doch ich war mir sicher, dass er Leni nie angerufen hätte.
– Nein. Tu ich nicht. Warum sollte ich jetzt noch lügen?
Ja, warum eigentlich?, fragte ich mich selbst.
Kein Ersatz für die Liebe, kein Ersatz für das eigene Leben, hallte es in mir nach.
Ich stand auf und suchte frische Sachen aus dem Schrank, begann mich anzuziehen.
Mark stand noch eine Weile wie angewurzelt da, sah mir schweigend zu und verließ dann das Zimmer. Ich atmete erleichtert auf und setzte mich auf die Bettkante, um mich zu sammeln. Es ging also wieder los, mit den Lügen, die noch viele weitere nach sich ziehen würden, eine nach der anderen, bis keiner die Wahrheit wiedererkennen würde.
Wie damals in den letzten beiden Jahren mit Ivo. Bevor mich der Kummer auffraß, mich in Stücke riss.
Ich schrak auf. Es durfte sich nicht mehr wiederholen. Jetzt gab es Theo. Plötzlich überkam mich schreckliche Sehnsucht nach ihm, und etwas zog sich in meinem Körper schmerzhaft zusammen. Ich blickte auf die Uhr, ich müsste ihn sofort bei seinen Großeltern abholen, dann würde alles gut werden: Wenn er bei mir war, wenn ich ihn nur fest genug umarmte, dann würde ich wissen, wo ich hingehörte, und gleichzeitig war mir klar, dass es eine Lüge war, aber mir blieb nichts anderes, als mich an diese Lüge zu klammern. Nein, kein Ersatz, dachte ich wieder und bemerkte, wie meine Hände zitterten.
– Das ist pervers, weißt du das?, hörte ich plötzlich aus der Küche Marks Stimme und sprang auf. Seine Stimme war kalt, voller Verachtung. Ich überlegte, ob ich in die Küche gehen sollte oder abwarten, dass er zu mir kommen würde. Die Küche war ein neutraler Ort.
Meine Haare waren noch feucht vom Duschen und klebten an meinem Hals. Ich steckte sie hoch und warf einen kurzen Blick in den Spiegel, prüfte, ob sich noch Abdrücke der letzten Nacht auf meinem Gesicht ablesen ließen, aber ich sah nur eine blasse Frau mit geweiteten Augen, mit zittrigen Lidern und Lippen, die ein wenig geschwollen waren.
Er saß am Küchentresen und trank Bier. Ich brauchte dringend eine Zigarette, mir fiel ein, dass ich Ivos Schachtel eingesteckt hatte. Ich holte sie und zündete mir eine an. Mark starrte mich fassungslos an: Hatte er von mir Reue und Tränen erwartet, Bitten um Verzeihung, den Kniefall, das Versprechen, eine solche Ungeheuerlichkeit nie wieder zu tun? Aber ich empfand keine Reue, lediglich eine unendliche Leere in mir. Nicht den Ansatz einer Erklärung oder einer Antwort, die ihm die letzte Nacht hätte erklären, entschuldbar machen können. Und ich wollte auch kein Verständnis von ihm, ich war diejenige, die mich selbst verstehen musste, verstehen, dass ich diese Schuld, diesen tiefen Schmerz, die wunde Stelle in mir, die zugespachtelt und weiß überstrichen gewesen war, wieder aufgerissen hatte.
Ich habe Mark von Anfang an klarzumachen versucht, dass mein Leben sich im Fundament von seinem wesentlich unterschied. Stück für Stück erzählte ich von meiner Vergangenheit. Er gehörte zu der Sorte Mann, die Beziehung meinte, wenn sie Beziehung sagte, die ein festes Wertesystem lebte. Und ich wusste, dass ich zu ihm ehrlich würde sein müssen.
Und ich war müde, einfach nur müde von all den Streitereien, Klärungsgesprächen, verzweifelten Sehnsüchten und Versteckspielen der Jahre zuvor. Ich traf auf Mark und erkannte an seinen zielstrebigen, klaren Augen, dass er mich lieben würde, wenn ich es zuließ. Ich nahm in Kauf, dass ihn mein Andersartiges, wie er es ausdrückte, die schrägen Abdrücke meiner Familie reizten, und er sich mit mir in eine Freiheit einzukaufen glaubte, die er in seiner Jugend
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