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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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musste, wie ein Teenager, der Angst hat, erwischt zu werden.
    Was für eine scheiß Glücksdiktatur, dieses Leben, dachte ich und beschloss, mir gleich nachher Zigaretten zu besorgen.
    Zum Nachtisch gab es Obstsalat mit Mango-Lassi. Ich wartete ungeduldig auf den Martini, der bei Marks Eltern immer erst nach dem Essen serviert wurde. Nachdem sich die politischen Themen erschöpft hatten, begann Mark von seinem neuen Projekt zu erzählen. Seine neue Filmreihe bekam Spitzeneinschaltquoten. Jetzt bereitete er eine Dokumentation über Zypern vor.
    Die Eltern hingen an seinen Lippen. Ich sah mich am Tisch um. Wir waren alle so zufrieden: das Großelternehepaar, das seinen Wohlstand lebte und auf ein geradliniges, erfolgreiches, musterhaftes Leben zurückblickte; mein Ehemann, der ebenso musterhaft das Beste aus seiner Herkunft für sich mitgenommen hatte. Mein Sohn, der sichere Aussichten auf eine musterhafte Erziehung und ein entsprechend musterhaftes Leben haben durfte. Und mittendrin ich, die in diese Musterhaftigkeit nicht so recht zu passen schien. Denn meine Vergangenheit führte keinesfalls geradlinig in dieses mit Designermöbeln so geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer im minimalistischen Stil. Ich, die schmerzvollen Sex in einem schäbigen Hotelzimmer hinter sich hatte, mit einem Mann, den man meinen Bruder hätte nennen können; die ihren Zeitungsartikel von der Praktikantin umschreiben ließ, weil sie zu trotzig war; sie, die plötzlich unendliche Sehnsucht nach dem Meer verspürte, während in ihr etwas Dunkles heranwuchs und sich in alle Fasern ihres Körpers ausbreitete. Es wurde schwarz und schwärzer. Ich kam mir schwarz vor, einfach nur schwarz, und alles um mich herum schien so hell, so weiß, so rein. Ich mittendrin ein Fleck. Ein schwarzer Fleck.
    Es tat weh, sehr weh, auf einmal tat etwas in mir so weh, dass ich mich entschuldigte, vom Tisch aufstand und ins Bad ging. Ich hielt lange das Gesicht in den kalten Wasserstrahl, starrte dann in den Spiegel, in einen Villeroy & Boch-Spiegel. Bestimmt scheißteuer, bestimmt scheißexklusiv.
    Wer war ich, wenn ich mich nicht erinnern wollte? Gefangen zwischen unzähligen vergebenen Möglichkeiten. Ich starrte mich an und wollte losbrüllen. Ich legte meine Finger gegen das Spiegelglas und begutachtete meine Fingerabdrücke.
    Mir war es gutgegangen, ich hatte Glück gehabt. Es ging mir eigentlich nach wie vor gut. Die Menschen, die draußen auf mich warteten, die sich so vertraut miteinander unterhielten, liebten sich. Sie liebten meinen Sohn, meinen Mann, sie akzeptierten mich. Zumindest wegen des Enkels, meines Sohnes. Den ich ohne Mark niemals hätte haben können, nicht weil es keine anderen Männer gegeben hätte, sondern weil er mir den Glauben daran gegeben hat, Mutter sein zu können, sein zu dürfen. Und jetzt starrte mir ein leeres Gesicht entgegen, ein fremdes Gesicht.
    Meine Pupillen geweitet und meine Mundwinkel nach unten gerichtet. Um die Augen ein paar Lachfalten, die Nase spitz und noch immer zu klein für mein Gesicht. Der Lippenstift verwischt, das Restrot schimmerte ungesund, zwecklos, unbestimmt.
    Als Kind hatte ich oft vor dem Spiegel gestanden, um herauszufinden, ob ich zu jemandem passte. Ich wollte dazugehören, ich wollte sicher sein, zu meiner Familie zu gehören. Glichen meine Augen denen von Leni? Sie waren schmaler und damit Mutters Augen ähnlicher. Wir alle hatten Honigaugen, sanft und hellbraun und zu Tränen neigend, ein wenig zu müde, zu sehnsuchtsvoll für die Wirklichkeit. Doch während mein Blick sich im Laufe der Jahre geschärft hatte, verlor der von Leni an Klarheit.
    Die Wangenknochen hatte ich von Tulja, das war deutlich: hohe und spitze Wangen, auf die ich schon als Kind stolz war, auch weil Tulja so schön war und weil ich ebenso schön sein wollte. Meine Stirn glich der meines Vaters. Offen und ein wenig zu hoch. Meine Lippen voll und klein. Du und dein Kussmund, sagte Mutter immer, wenn sie mich auf diese Lippen küsste. Sie stammten von Vater.
    Nur meine Nase hatte kein anderer. Es war nicht Mutters europäische Stupsnase, nicht Vaters Nase. Vaters Nase war lang und ein wenig bucklig, aber stolz und schön. Als kleines Mädchen wollte ich seine Nase oft anfassen. Lenis Nase? Es war die von Mutter. Aber meine war nur meine, und deshalb hatte sie mich auch so traurig gemacht, manchmal abends, in Tuljas altem, aus der Puste gekommenem Haus, wenn ich mich ins Bad einsperrte und nach mir selber suchte. Meine Nase,

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