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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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wieder zweifelte ich an meiner Kraft, an meinem Willen, all das ertragen zu können, was noch kommen würde. Aber irgendetwas in mir pochte, schrie, wirbelte umher. Irgendetwas in mir schrie danach, gelebt zu werden. Irgendetwas in mir sehnte sich nach Chaos, nach dem Gefühl des Fallens, nach der Klarheit, die eintreten würde, wenn ich den Sturm überlebte. Die Angst zerrte an mir, rupfte an meiner Haut und nahm mir den Atem. Ich war kurz davor, Mark um den Hals zu fallen und ihn um Vergebung zu bitten.
    Vielleicht hätte ich es sogar getan, wenn er in diesem Moment nicht mit seiner Hand ausgeholt und mich geohrfeigt hätte. Es war das erste Mal, dass er mich schlug. Es kam so unerwartet, dass ich zurücktaumelte, mein Gleichgewicht verlor und gegen die Tischkante prallte. Die Kante schnitt mir in den Rücken, aber ich spürte keinen Schmerz dabei.
    Erschrocken über sein eigenes Verhalten, wich er ein paar Schritte zurück und bedeckte mit beiden Händen sein Gesicht. Ich drehte mich um, stützte mich auf den Tisch, meine linke Wange brannte, ich war wie betäubt.
    Ich sah die Obstschale und obendrauf die Möhre, ausgetrocknet, leicht bräunlich und krumm. Sie lag auf den anderen, frischen Früchten, die Mark immer beim Türken um die Ecke einkaufte. Völlig deplatziert lag sie neben all den prallen, schönen Früchten und schien mit ihrer bloßen Anwesenheit den anderen Früchten die Farben, den Geschmack, den Glanz zu rauben.
    Irgendetwas an dem Bild zog mich in seinen Bann: Warum hatte Theo diese Möhre behalten, und warum lag sie so lange da? Und warum gerade dort? Was hatte sie für eine Bedeutung?
    – Warum haben wir die Möhre nicht weggeschmissen?, fragte ich Mark und sah ihn an. Er stand blass und beschämt vor mir und verstand kaum, was ich sagte.
    – Es tut mir leid, flüsterte er statt einer Antwort auf meine Frage.
    – Es muss dir nicht leidtun. Ich bin nicht wütend auf dich.
    Ich goss mir ein Glas Wasser ein und trank gierig. Das Brennen auf meiner Wange hatte nachgelassen.
    Wie lebt man ohne Kratzer? Wie lebt man, ohne sich permanent an sich selbst, an den eigenen Wünschen und an den eigenen Kanten zu schneiden?
    Ich frage mich, ob man sich selbst je begegnen kann – aufrichtig, einheitlich, vollständig? Sich ansehen wie im Spiegel und keine Fragen mehr offenhaben. So wie ich mir immer dein Gesicht angesehen habe und dachte, mich darin wiederzufinden. Aber es war ein Irrtum.
    Teil von dir zu sein heißt nicht, du zu sein. Teil von mir zu sein macht dich noch lange nicht zum Ich.
    Ich frage mich, ob ich das alles hätte verhindern können, während ich dein Foto aus der Tasche hole. Ein Foto von dir, als du noch du warst und ich ich. Als du noch schwimmen gingst mit mir und mit deiner Sehnsucht nach mir gefochten hast.
    Ich habe es immer verstanden. Ich habe es immer verstanden, warum du so lange nicht zulassen konntest, mich als Teil von dir zu begreifen.
    Du hast immer dagegen angekämpft, und ich habe mich dir immer wieder aufgezwungen, so lange, bis dir keine andere Wahl mehr blieb, als mich gänzlich, ungeteilt, unportioniert in dir zu tragen.
    Ich habe viele Fragen offen, aber ich weiß, dass ich sie mir nun allein beantworten kann. Und irgendwie ist es jetzt leichter, da ich dich nicht um die Welt jagen muss, in der Hoffnung, die Antworten nur von dir bekommen zu können. Ja, das ist auf eine unnatürliche, erschreckende Weise befreiend.
    – Was hast du jetzt vor, Stella?
    Es war der erste brauchbare Satz, den Mark an dem Tag an mich richtete. Er saß wieder auf dem Barhocker, den Kopf auf die Hände gestützt, und auch er starrte die Möhre an.
    – Ich weiß es nicht. Ich werde es herausfinden müssen. Es fühlt sich alles leer an.
    – Was ist mit Theo? Was wird aus uns, verdammt, siehst du denn nicht, wohin das Ganze führt!?
    Ich hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, und am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und ihm versichert, dass alles gut werden würde, dass er mir nur ein wenig Zeit geben müsse. Und schon wieder wäre es eine Lüge, ein Versprechen, das ich nicht würde einhalten können. Ich setzte mich auf den Barhocker neben ihn.
    – Wie soll ich lieben, wie soll ich dir eine Frau sein, Theo eine Mutter, wenn ich nicht weiß, wer ich bin, Mark?
    – Und dann langt es, dass er nach sieben Jahren wieder auftaucht, damit du alles über Bord wirfst? Einfach alles, Stella! Du vögelst mit ihm und erzählst mir was von Selbstfindung?
    – Es geht nicht um

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