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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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drüben war? Hell, dunkel? Verregnet, trocken? Was sie wohl jetzt machte? Wovon sie träumte, falls sie träumte?
    – Hellooo?! Jiniie, is that ya?, sagte sie mit breitem Ostküstenakzent.
    – Mama?
    Eine Pause. Eine lange Pause. Keiner hatte Geburtstag, keiner veranstaltete ein Familientreffen, keiner feierte ein Jubiläum. Es war ein Anruf der anderen Art, das wussten wir beide, bevor ich auch nur einen Satz gesagt hatte. Gesi stöhnte auf, und dann hörte ich ein fast schon flehendes » Stella? «.
    Im Unterschied zu Ivos war ihr Deutsch klar und auf eine merkwürdige Art und Weise zeitlos geworden. Ein literarisches Deutsch. Ihre Worte hatten immer etwas von einem Gebet, wenn sie anfing, in der Muttersprache zu reden, der Sprache ihrer Vergangenheit, der Sprache, in der sie eine andere gewesen war. Das Andenken an diese andere Frau hatte sie in Zeitlosigkeit einzementiert.
    – Stella, ist auch alles in Ordnung? Bei euch ist es doch mitten in der Nacht?
    – Ja, nein. Es ist nur. Ich bin ein wenig erkältet, kann nicht schlafen und möchte mit dir reden.
    – Natürlich. Warte, ich setze mich nur hin, so, nun bin ich da.
    Ich hatte sie fast drei Jahre nicht mehr gesehen. Mark, Theo und ich hatten sie damals besucht, und sie hatte Theo einen riesengroßen Plastikbagger gekauft, der mit einem kleinen Motor betrieben war, und Theo hatte ihren ganzen Garten damit umgegraben.
    Ich sah sie vor mir in ihrem Wohnzimmer sitzen. An den Wänden hingen unzählige Bilder von uns, aus unseren Kindertagen. Bilder von zwei kleinen Mädchen, die ein gutes Leben gehabt hatten, eine gute Kindheit. Als Leni noch Ballett tanzte und ich noch eine Kurzhaarfrisur trug. Und dann war da eine Lücke an der Wand. Die Galerie ging weiter mit einem hochgewachsenen, schlaksigen Jungen mit einem spitzen Kinn und trüben Augen. Dann gab es noch zwei Bilder von Leni und mir. Beide auf Tuljas Hof aufgenommen, Leni vor der Scheune mit einer Schaufel in der Hand und Vater mit der Hand abwehrend. Und ich auf einem der Niendorfer Pferde. Kleine Brüste zeichnen sich unter einem gestreiften Hemd ab, meine Haare wirkten spröde und mein Gesicht ernst und misstrauisch, nicht meinem Alter entsprechend. Das Pferd war das einzig Glückliche an dem Bild.
    – Hat er seine Wohnung in Greenwich wirklich aufgegeben? Was hat er gesagt, was er vorhat?
    – Etwas Urlaub und dann arbeiten. Was ist los, Stella?
    – Ich vermisse dich.
    Pause. Eine Pause, die nach nichts schmeckte.
    – Auch ich vermisse dich. Und wie ich euch vermisse.
    – Dann komm doch wieder einmal zu uns. Komm.
    Sie war nach ihrem Umzug in die USA nur dreimal in Hamburg gewesen. Einmal, als ihre Mutter starb, dann, als ihr Vater starb, und zuletzt nach meinem Selbstmordversuch. Die beiden ersten Male war sie nur so lange geblieben, wie es unbedingt nötig war; nach der Bestattung war sie umgehend abgereist. Bei ihrem letzten Aufenthalt war sie länger geblieben, um mit mir gemeinsam meine kleine Wohnung neu einzurichten und mir drei Wochen lang gesundes Essen zu kochen.
    – Was ist passiert?
    – Nichts. Außer, dass er hier aufgekreuzt ist und mich innerhalb von Sekunden dazu gebracht hat, dass ich mein Leben hasse, dass sich alles, einfach alles hohl anfühlt.
    – Er kann nichts dafür, Stella. Es ist nicht seine Schuld.
    – Und ist es meine Schuld? Ist es das, Mama?
    – Nein, um Gottes willen, es ist nicht deine Schuld. Das sagt doch niemand.
    – Doch! Ich sage das. Wieso will mir keiner glauben? Wieso will das keiner hören?
    – Stella, hör mir zu, hör mir zu. Darum geht es doch nicht! Erinnerst du dich an jenen Sommer, als Ivo zu uns kam? Als Tulja vorgeschlagen hat, ihr solltet zu ihr ziehen? Das Jahr, als Leni so schrecklich krank war und …
    – Ja.
    – Da seid ihr zu dritt im August zu uns nach Newark gekommen. Das war das erste Mal, dass ihr hierherkamt. Ihr zwei. Und Ivo, der nicht gesprochen hat. Und du bist damals hin und her gelaufen und hast für ihn übersetzt, hast für ihn gesprochen. Er schien sich nur mit dir zu verständigen. Erinnerst du dich?
    – Natürlich erinnere ich mich.
    – Und es schien, als würde es dir nichts ausmachen, dass er nichts sagte. Als würdest du ihn trotzdem hören und verstehen. Und einmal, da hat es geregnet. Da habt ihr draußen gespielt. Du und Ivo, und er ist hingefallen und hatte eine ziemliche Wunde am Knie. Weißt du es noch? Und dann kam ich aus dem Haus, und du saßest auf dem Treppenabsatz und weintest. Ivo war schon im Haus,

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