Mein Sanfter Zwilling
ich merkte, dass er getrunken hatte. Im Zimmer herrschte ein Chaos aus Papieren, Büchern und Zeitungsartikeln, auch das Bett war zerwühlt, Abdrücke zweier Körper, zwei eingedrückte Kissen fielen mir sofort auf. Etwas zog sich in mir zusammen.
– War jemand hier?, fragte ich. Der Gedanke schien unerträglich, unerträglicher als die Leere meines Schneckenhauses.
– Nein, wieso?
Ich sah zum Bett hinüber. Er grinste und machte die Tür hinter mir zu, schubste mich mit einem Arm ins Zimmer.
– Sag nicht, du bist eifersüchtig. Schließlich bin ich nicht verheiratet!
– Du blödes Arschloch!, stieß ich hervor und ließ mich auf die Bettkante fallen.
– Ist ja gut. Hey, ich werde mich wohl nicht rechtfertigen müssen?
– Du machst einfach alles kaputt.
– Ich habe lediglich dein Kartenhaus ein wenig ins Wanken gebracht. Ja, so ist es eben mit Kartenhäusern!
Ich sprang auf und ging auf ihn zu, ich schlug ihm ins Gesicht; dem ersten Schlag hielt er stand, beim zweiten Ausholen fing er mein Handgelenk ab und warf mich aufs Bett.
Er roch nach Alkohol.
Auf seinem Ohr glänzten ein paar Härchen im künstlichen Licht der Nachttischlampe.
– Hör mir zu, Stella. Hör mir zu, bitte. Ich muss wegfahren. In drei, vier Tagen muss ich wegfahren. Ich lasse dir ein paar Unterlagen da, damit du sehen kannst, worum es geht. Ich fliege nach Tiflis, nach Georgien. Es ist wichtig. Ich flehe dich an, komm nach. Das ist das Letzte, worum ich dich bitte.
– Du bist betrunken, lass mich los.
– Nein, verdammt, sieh mich an!
Er nahm mein Gesicht in seine Hände und presste sein Gesicht an meines, so nah, dass wir beide unweigerlich anfingen zu schielen, um uns überhaupt erkennen zu können.
– Lies bitte einfach die Texte. Ich höre auf, ich schwöre es dir, ich höre danach auf. Du musst nur ein paar Wochen bei mir sein. Ein paar Wochen, danach hört das alles auf, ich verspreche es dir. Ich bin dann weg, wenn du es so haben willst. Du kannst dann dahin zurück, wohin du willst, oder eben nicht. Stella, bitte. Ich meine es ernst. Lies die Mappe hier durch, versprich es mir. Vielleicht die wichtigste Reportage, die ich in meinem Leben gemacht habe, aber es ist mehr. Es ist mehr als eine Reportage.
– Warum? Warum soll ich?
– Weil es dich betrifft. Uns.
– Du machst eine Reportage über mich?
Er gab keine Antwort darauf; er hatte seine Hände gelockert, hatte sich abgewandt, und ich konnte mich wieder aufrichten. Ich starrte seinen Rücken an. Ich setzte mich neben ihn, und wir schwiegen eine Weile. Er griff zu der Wodkaflasche, die neben dem Bett stand, und trank daraus, als wäre es Wasser.
– Ivo, ich habe Angst.
– Es ist keine Strafe, Stella. Falls du das meinst.
Ich fragte mich, wie er es immer schaffte, bei seinem Alkoholkonsum so klar zu denken.
– Ich meine gar nichts mehr.
– Doch, tust du. Endlich denkst du wieder nach.
– Ich würde es tun, wenn nicht Theo …
– Eine Mutter, die eine Weile weg ist, ist besser als eine, die nie wirklich da ist, die einem fremd bleibt. Meinst du nicht?
Er stand abrupt auf.
– Was für Georgien. Mein Gott. Wovon sprichst du überhaupt?
– Versprich es mir.
– Ich kann dir nichts versprechen.
– Sieh mich einfach an. Nur noch dieses eine Mal, dann werde ich alles tun, was du willst. Ich schwöre es dir. Ich schwöre es dir bei den Tagen, die wir in der Sonne verbracht haben, in der Bucht. Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist. Bei den Nachmittagen in der Scheune. Ich schwöre es dir bei den Piratenspielen im Garten.
Er ging zur Balkontür, schob den gelblichen Vorhang beiseite und sah hinaus. Von der Straße drangen Geräusche: Menschen, auf der Suche nach Lust und Freude strömten durch die Straßen.
– Manchmal denke ich, dass ich eine kleine Zecke bin, schon immer gewesen bin. Ich meine eine, die sich eingenistet hat. Die zäh ist und wartet. Aufs Blut wartet, weil es ihre einzige Überlebenschance ist. Weil sie nichts hat, weil sie eben eine Zecke ist. Sie wartet, an einen Zweig gepresst, und dann, dann kommst du vorbei, und sie riecht das Blut, das gute, gesunde, erfolgreiche, vielversprechende Blut, lässt sich fallen, auf dich drauf, zwischen deinen Rippen nistet sie sich ein und, und saugt an dir. Solange es geht. Solange du Blut hast, es entbehren kannst. Und dann wird es dir zu viel. Dann wirst du krank und entfernst sie, mit einer Pinzette nimmst du sie ab und wirfst sie auf die Erde. Und anfangs denkt die Zecke,
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