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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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und ich habe dich gefragt, warum du denn weinst und warum du da allein sitzt, und weißt du, was du mir gesagt hast?
    – Nein.
    – Da hast du mich erstaunt angesehen, als wäre meine Frage völlig überflüssig, da der Grund für deine Tränen so klar war. Und du sagtest, Ivo hätte eine Wunde am Knie und er könne ja nicht klagen, weil er ja keine Stimme habe, und du würdest es für ihn tun, damit die Wunde schneller heile. Diese Antwort werde ich nie vergessen.
    Ivos Wunde hatte ich vergessen, aber wie Gesi mir die Geschichte erzählte, spürte ich einen fernen, stumpfen Schmerz. Ich schloss die Augen. Die Nacht war nicht mehr so laut und auch nicht mehr so heiß.
    – Diese Antwort hat mir so vieles verständlich gemacht. Ich mochte Ivo, aber er machte mir Angst, denn er erinnerte mich an … Und du gabst mir diese Antwort, und ich dachte, dass es so was Schönes noch gab, solch eine Empfindung, in all dem Schmutz um uns herum.
    Ihre Stimme fing an zu zittern, aber ich wusste, sie würde nicht weinen.
    – Da dachte ich, dass es vielleicht gar nicht so schlimm sein müsste, dass es vergehen würde. Wenn du, wenn wenigstens einer von uns zu solch einer Empfindung imstande war.
    Es war mir nicht ganz klar, was sie damit meinte, aber ich mochte es. Ich gab mich ihrer sanften Stimme hin, und irgendwann schaffte sie es, mich in fiebermüden Schlaf zu wiegen.
    Theo war launisch und jammerte. Mark hatte ihn mit dem Auto gebracht und vor der Tür abgesetzt, war nicht mit hochgekommen. Er ließ Theo ausrichten, dass er nicht vor Mittwoch wieder in Deutschland sei, aber im Notfall per Handy erreichbar wäre. Ich nahm Theo in den Arm und neckte ihn ein wenig. Aber er fremdelte und schien sauer auf mich, anscheinend hatte meine ablehnende Haltung hinsichtlich eines Hundes auch zu Auseinandersetzungen bei den Simons geführt. Immerhin verlieh es mir den kleinen Trost der Dazugehörigkeit.
    Abends nahm ich wieder Aspirin, bastelte mit Theo an einem Ritterpuzzle und hörte mir dann mit ihm ein Hörbuch an. Er fragte nichts, und die kleine Illusion der wieder eingekehrten Normalität, das Alleinsein mit meinem Sohn und die Ruhe taten mir gut.
    Am nächsten Tag ging ich in die Redaktion und entschuldigte mich; ich versprach, den Artikel bis Dienstag abzugeben und nahm die Kontaktdaten des Architekten mit. Später rief ich sogar meine Freundin Lina an, die als einzige weibliche Mitarbeiterin bei einem Sportblatt tätig war und die ich in letzter Zeit viel zu selten gesehen hatte. Wir gingen ins Kino, während ihre Tochter und Theo bei Linas Mann blieben, und tranken anschließend bei einem Italiener in der Innenstadt Wein.
    Ich hörte ihr zu und trank den teuren Wein. Alles schien wie früher.
    Wieder zu Hause, brachte ich Theo zu Bett, wartete, bis er einschlief, und küsste seine Arme, die so weich waren wie Junipfirsiche. Dann schlich ich in mein Arbeitszimmer, tippte lustlos an meinem Artikel herum und nahm mir vor, bei Marks Rückkehr wieder einmal für ihn zu kochen. Gegen ein Uhr morgens klopfte es an der Tür. Es klingelte nicht, sondern klopfte, und ich fragte mich im ersten Moment, ob ich es mir einbildete. Ich ging, immer noch meiner Wahrnehmung misstrauend, vorsichtig zur Tür und horchte. Da klopfte es erneut, und ich wusste, dass es Ivo war.
    Ich riss die Tür auf. Es hatte geregnet, und er stand mit tropfendem Haar vor mir.
    – Bist du wahnsinnig? Was tust du hier? Theo könnte aufwachen.
    – Deswegen habe ich ja geklopft.
    – Aber wenn Mark …
    – Ach, komm schon. Ich weiß, dass er nicht da ist.
    – Du kannst nicht einfach so hier vorbeikommen, wenn es dir gerade passt!
    – Hier. Ich hab es für dich kopiert, ich wollte sichergehen, dass du es auch erhältst.
    Er drückte mir eine Papiertüte mit etwas Hartem darin in die Hand.
    – Wo willst du hin?, rief ich ihm verzweifelt nach, den Flüsterton hatte ich längst aufgegeben, als er sich umdrehte und aus dem dunklen Treppenhaus rief:
    – Morgen geht mein Flug.
    – Dein Flug?
    – Ich warte auf dich. In dem Umschlag findest du alles. Ruf mich an, ich hole dich ab. Ich reserviere dir auch das Ticket.
    Ich hörte, wie er die Treppen hinunterrannte, das Echo seiner Absätze. Wie versteinert stand ich in der Tür und lauschte nach einem wegfahrenden Auto, doch nichts dergleichen. Wie lange hatte er draußen gestanden und die Fenster beobachtet, im Wissen, dass ich allein war? Dieser Gedanke ließ mich erschaudern. Ich schlug die Tür hinter mir zu und

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