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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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zu ihr setzen. Dann stellte sie mir den Kirschlikör hin.
    – Wie lange geht das schon so?, fragte sie, und ihre Stimme hatte etwas Metallenes.
    – Ich weiß nicht, was du meinst.
    – Beantworte gefälligst meine Frage!
    Sie leerte ihr Glas mit einem Schluck und setzte es mit einem Knallen auf den Tisch. Die ganze Zeit fixierte sie mich mit ihren trüben Augen.
    – Wenn du irgendwem die Schuld geben willst: Ich bin es. Ich bin die Schuldige. Ich habe ihn dazu gebracht.
    – Wag es ja nicht, mich anzulügen. Er hat deine Rechtfertigungen nicht nötig. Ich kenne ihn gut genug.
    – Aber es ist so! Wieso will das keiner hören?
    – Ihr schlaft also miteinander.
    – Ab und zu. Ja.
    Auf einmal begann sie zu weinen. Ich habe Tulja nur zweimal weinen sehen, das erste Mal, als sie Leni, mich und Ivo in Hamburg abholte, während Vater besoffen auf der Couch lag und mit Leidensmiene zur Decke starrte. Kurz nachdem Mutter nach New Jersey gezogen war. Kurz nachdem Ivo zu einem Mitglied der Tissmars geworden war, nach Emmas Begräbnis. Als wir unsere Sachen packten und Ivo stumm auf meiner Bettkante saß und ab und zu unverständliche Geräusche von sich gab oder die Menschen zu beißen versuchte, die ihn berühren wollten. Da hatte sie sich in der Toilette eingeschlossen und geweint. Laut und haltlos. Jetzt sah ich sie wieder weinen, Stunden nachdem ich nackt an ihr vorbeispaziert war. Sie weinte fast ohne Ton, sie versuchte nicht, die Tränen zu verbergen, bedeckte auch nicht das Gesicht mit den Händen, sie sah mich an und weinte. Ich saß da, stumm, trank den unerträglich süßen Likör und wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte.
    Ich dachte darüber nach, warum sie weinte, warum sie immer so verbissen um Ivos Liebe, Aufmerksamkeit rang, warum sie ihn immer in Schutz nehmen musste, was es war, dass sie so voller Sorge um ihn machte. Was wusste sie? Wie stark hatte meine Familie ihre Erinnerung an den Nachmittag auslöschen können? Hatte Tulja Schuldgefühle, fragte ich mich, während ich ihr errötetes Gesicht ansah.
    – Dein Vater, es wird ihm das Herz brechen.
    – Das ist mir egal. Das ist mir alles egal.
    – Ich habe Angst.
    – Angst?
    – Ja, um ihn.
    – Wieso hast du Angst um ihn?
    – Er ist nicht so stark, wie er immer tut.
    Natürlich hatte sie Schuldgefühle! Dieses Gefühl schien das einzig Konstante in unserer Familie zu sein, gepaart mit der Mühe, die sich alle machten, um genau dieses Gefühl auszublenden.
    – Aber du bist doch mein kleines Mädchen, du bist doch … Wie konnte ich das übersehen? Wie konnte ich?
    – Es geht nicht um dich, Tulja.
    – Ja, aber vielleicht hätte ich was tun können, es verhindern können?
    – Was? Was willst du verhindern?
    – Dass ihr euch verletzt.
    – Wieso denkst du das?
    Sie gab mir keine Antwort darauf. Ich sah sie an, schüttelte nur den Kopf und ging wieder nach oben, ins Bett. Ich konnte nicht einschlafen. Ich wusste, dass er mit Tuljas Wagen weggefahren war. Ich versuchte, mich mit einem Buch abzulenken. Es gelang mir nicht; nach Stunden der Schlaflosigkeit legte ich mir ein Kissen über den Kopf.
    Im Morgengrauen wurde mir plötzlich die Decke weggezogen, und bevor ich richtig wach geworden war, zerrte mich jemand hoch. Es war seine Hand, die mich am Handgelenk hielt und aus dem Bett warf. Er war betrunken oder hatte irgendeine Droge genommen oder beides. Er hatte geweitete Pupillen, und in seinem Haar steckte Laub, als wäre er irgendwo hingefallen. Ich war noch im Halbschlaf und konnte nicht mal ein Wort aus mir herauspressen. Er hatte mich vor sich hingestellt, hielt mein Kinn, so dass ich ihn ansehen musste, und musterte mich voller Hass.
    – Du hast alles kaputtgemacht! Du hast alles, einfach alles kaputtgemacht! Und er begann mich zu schütteln, er packte mich an den Schultern und schleuderte mich hin und her. Ich heulte auf, als er mich aufs Bett fallen ließ und ich mit dem Ellenbogen gegen die Bettkante stieß. Er ließ mich liegen und stürmte aus dem Zimmer.
    – Es tut mir leid.
    Mark saß auf meiner Bettkante. Es graute am Himmel. Ich sagte nichts.
    – Es hätte niemals so weit kommen dürfen mit uns. Ich möchte eine Sache wissen, Stella, und dann lasse ich dich weiterschlafen. Liebst du mich noch?
    Ich schwieg.
    – Stella?
    – Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht mehr.
    – Du weißt es nicht?
    – Ja, ich weiß es nicht mehr. Bitte geh jetzt wieder rüber. Ich bin unendlich müde.
    Mark stand auf und ging. Ich steckte meinen

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