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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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begann mit ihnen im Sand zu buddeln. Ich zündete mir eine Zigarette an und bemerkte, dass ich einen blauen Fleck am Arm hatte, von der letzten Nacht, zugefügt von meinem eigenen Ehemann, den ich betrogen und hintergangen hatte. Den ich belog und dem ich gesagt hatte, dass ich nicht mehr wusste, ob ich ihn noch liebte. Ich schloss die Augen, und der Geruch des Wassers erinnerte mich an Tulja, an die Kindheit, und vor allem erinnerte er mich an das Haus nicht weit vom Hafen. An das Haus von Emma, an das Haus von Ivo. Mit dem kleinen Garten, mit dem schmalen Flur, an dessen Ende sich das Schlafzimmer befand – das geheimnisvolle Zimmer, in dem unsere Eltern ihr gefährliches Spiel miteinander spielten. An die kleine, schattige Küche, in der Ivo und ich uns was zu essen machten, wenn wir Hunger bekamen. Ivo konnte hervorragend Omeletts machen, und ich schmierte Brote, immer mit ein wenig zu viel Butter drauf, aber das Essen schmeckte uns immer in dieser Küche. Und der schwarze, große Hund zu unseren Füßen döste vor sich hin und bekam von uns die Reste, die wir nicht aufessen konnten.
    Ich mochte Hunde nicht. Das hatte ich Mark nie gesagt. Ich mochte sie nicht. Der einzige Hund, den ich gemocht und an den ich mich gewöhnt hatte, war tot, tot, zusammen mit seiner Besitzerin. Tot durch ein Jagdgewehr. Er hatte zu Füßen seiner toten Herrin gelegen. Ich habe das erst Jahre später durch Ivo erfahren. Den toten Hund hatte man unterschlagen, angesichts der toten Frau.
    Ich dachte an einen Nachmittag, als Ivo und ich Verstecken gespielt hatten und ich mit Suchen dran war. Ich fand ihn gewöhnlich recht schnell, da das Haus nicht sonderlich groß war und ich mich recht gut auskannte, aber an dem Nachtmittag war er nirgends zu finden. Bis ich ihn im Garten auf einem Baum fand, ganz weit oben, mit einem Fernglas in der Hand. Der Ast, auf dem er saß, reichte zum Schlafzimmerfenster seiner Eltern. Das Fenster war zu, und die Vorhänge waren wie gewöhnlich zugezogen, wenn Frank und Emma sich darin aufhielten, aber diesmal war ein kleiner Spalt offen, und dorthin glotzte Ivo mit seinem Fernglas. Ich wusste, dass er etwas Unrechtes tat, und bat ihn, runterzuklettern, aber er ignorierte mich, völlig in seine Beschäftigung versunken. Ich hievte mich hoch und setzte mich zu ihm, meine Höhenangst überwindend und mein schlechtes Gefühl, das ich hatte – Zeuge von etwas zu sein, das verboten war. Doch Ivos Gesicht war derart angespannt, derart konzentriert, fremd und kalt, dass ich es nicht länger ertrug, von ihm ignoriert zu werden. Ich entriss ihm das Fernglas, mit einer Hand mich am Ast festklammernd, und sah hindurch.
    Ich sah zwei Schatten, zwei Umrisse, die sich aneinanderkrallten. Mein Vater saß mit dem Rücken zum Fenster auf dem Bett und Emmas Beine umschlangen seine Taille. Man sah ihr Gesicht nicht, da sie leicht nach hinten gebeugt war, aber man erkannte ihre Finger, die sich in seinen Rücken bohrten. Er beugte sich immer weiter nach hinten, mal schneller, mal langsamer, und der Eindruck, der durch das Bild entstand, war der eines großen Schmerzes.
    Ivo nahm mir das Fernglas weg und begann geschickt und schnell herunterzuklettern. Ich folgte ihm. Verstört, verängstigt und irritiert. Viel mehr von Ivos Kälte und Fremdheit als von dem, was ich durch das Fernglas gesehen hatte.
    Seit diesem Nachmittag bekam Ivo Wutausbrüche, immer dann, wenn Vater in seine Nähe kam. Er begann sich an seine Mutter zu klammern, jammerte dauernd, gab vor, Bauchschmerzen zu haben, sich das Knie aufgeschrammt zu haben, gab vor, hingefallen zu sein, wollte das Essen nicht, das ihm seine Mutter zubereitete, wollte seine Hausaufgaben nicht machen, wollte nicht mit mir spielen, wollte nicht, wollte nicht, wollte nicht. Und ich weinte, heimlich, öffentlich, laut, leise, fordernd, mitleiderregend, unterdrückt, ich weinte weder um meinen Vater noch um Mutter, die immer öfter bei Leni im Bett schlief, noch um Leni, die immer öfter Ausschlag bekam und immer seltener reiten gehen wollte, als wollte sie das Pony für das Verhalten ihrer Eltern strafen, auch nicht um Emma, die immer öfter in der Küche am Tisch saß und vor sich hin starrte, als wäre dort draußen, im Garten, in der Ferne die Lösung all ihrer Probleme. Ich weinte einzig und allein um Ivo und um seine Distanziertheit, seine Gereiztheit, darum, dass er die Lust auf unsere Abenteuer, auf unsere Spiele, auf mich verloren hatte.
    Nach der Weinphase folgte die Phase, in

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