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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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mich oder ihn unsichtbar machen, ihn, Kasper, mich.
    Ich erinnere mich noch so klar daran, wie Kasper ganz vorsichtig die Flasche abstellte und mit seiner Handinnenfläche über das Etikett fuhr. Ich sah immer noch nicht zu ihm auf. Dann drehte er sich wortlos um und ging aus dem Zimmer, er zog sogar noch leise die Tür hinter sich zu.
    Theo winkte mir, nachdem ich ihn bei Marks Eltern abgeliefert hatte. Sie wahrten zu meiner Überraschung immer noch Haltung mir gegenüber, musterten mich aber misstrauisch, weil ich ihren makellosen Sohn in schlechte Stimmung versetzte, und das seit Wochen.
    Ich setzte mich ins Auto und fragte mich, was ich mit meinem Tag anfangen sollte. Wo ich doch keinen Job mehr hatte, meinen Sohn nicht zu betreuen brauchte, wo Ivo weg war und wo alle Freunde, die mir einfielen, mir geraten hätten, bei meinem Zustand zu einem Therapeuten zu gehen. Das war das Allerletzte, was ich wollte.
    Ich fuhr durch die Stadt. Ziellos, Zeit verschwendend, mit dem Auto, das ein Geschenk meines Mannes war. Ich hielt an. Ich legte den Kopf aufs Lenkrad. Autos fuhren hupend an mir vorbei. Ich schaltete den Warnblinker an. Im Radio lief Long Road von Neil Young. Und der Himmel drohte mit einem wütenden Regenguss.
    Ivo lebte mit Bea in Berlin und schrieb für die großen Magazine des Landes. Ivo verdiente Geld und Ivo nahm Drogen. Ivo tauchte immer wieder ab, und seine nach wie vor nur Englisch sprechende Freundin begann dann, nach ihm zu suchen, und telefonierte seine gesamte Verwandtschaft ab, auch mich. Bea war mager geworden, ihre Beine schienen nicht mehr so lang, ihre Haare wirkten stumpf, und ihre Nägel waren ungepflegt. Sie schrieb kleine Berichte für englische Boulevardblätter und träumte von einem Kind, mit dem sie den immer mehr abdriftenden Ivo hätte an sich binden können. Als ich sie an Franks Geburtstag wiedersah, empfand ich sogar Mitleid für sie, und ich verachtete Ivo dafür, dass er neben meinem anscheinend auch andere Leben mühe- und reuelos zerstören konnte.
    Ivos Berichte wurden dagegen immer besser. Ivo hatte Geld, kaufte Tulja einen Geländewagen. Ivo schickte Frank die Erstausgaben der Bücher, die Frank sich gewünscht hatte, Ivo dachte an jeden Geburtstag, organisierte Restaurantbesuche und übernahm dann wie selbstverständlich die Rechnung. Ivo schenkte Leni und mir die Flugtickets nach Newark zu Mutters sechzigstem Geburtstag.
    Nach meinem Examen mietete ich mir eine eigene kleine Zweizimmerwohnung in St. Pauli und nahm einen Job als Lektorin in einem Belletristikverlag an. Ab und zu schrieb ich als freie Mitarbeiterin für Hamburger Zeitungen. Ich freundete mich mit einer Kollegin an, die Sarah hieß und wunderschöne grüne Katzenaugen hatte, segelte und mich zum Lachen brachte.
    Bea verließ Ivo, und die Familie trauerte.
    Ivo schleppte zu Lenis Verlobung mit ihrem Kinderbuchverleger eine neunzehnjährige Blondine an, die so große Brüste hatte, dass keiner von uns sich hinterher an ihr Gesicht erinnern konnte, geschweige denn an ihren Namen. Ivo tauchte high bei Tuljas Geburtstag auf, was Tulja nicht verborgen blieb. Tulja und er stritten sich auf der Veranda, während ich zu Anita Baker tanzte.
    Ich hatte extra eine Anita-Baker-CD und einen gut aussehenden Künstler mitgebracht, den ich auf einer Vernissage kennengelernt hatte, da ich über ihn einen Bericht schreiben sollte. Er malte, aber war nicht besonders erfolgreich. Und er war unglaublich gut aussehend. Mir schien, alle Frauen auf der Vernissage starrten mehr auf seinen Hintern als auf seine Bilder.
    Und so tanzte ich an jenem Abend vor allen offensiv und vulgär mit meinem wunderschönen neuen Liebhaber. Dass sie sich stritten, während ich an seinen Ohrläppchen knabberte, steigerte nur meine Genugtuung. Leni schüttelte den Kopf und räusperte sich. Ich grinste sie an und streckte ihr die Zunge raus.
    Keiner erinnerte sich an Anita Baker und das glückliche Weihnachtsfest, außer mir.
    Ich hatte den Auftrag bekommen, für eine Reportage in Berlin zu recherchieren. Ich fuhr mit dem Zug hin und nahm mir in einer altmodischen Pension ein Zimmer. Ich genoss die neuen Gesichter und die Ablenkung. Am vierten Tag in der Stadt traf ich auf Ivo. In einer gerade neu eröffneten Bar, in die mich ein Kollege geschleppt hatte und die angeblich unglaublich hip und cool sein sollte.
    Jemand tippte mir auf die Schulter, und ich sah Ivo, der mich anstrahlte und mir einen Kuss auf die Stirn drückte.
    – Was machst du hier?,

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