Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
Vom Netzwerk:
musste allein den Blicken und den unausgesprochenen Vorwürfen meiner Familie standhalten. Als ich gehen wollte, folgte mir meine aufgelöste Schwester in den Flur und hielt mich am Ellenbogen fest.
    – Du wirst ihn umbringen. Du wirst Papa umbringen. Wie kannst du nur so etwas tun?
    – Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Ich liebe ihn.
    – Du liebst ihn? Nach dem, was wir durchmachen mussten, nach all dem, was passiert ist, sagst du, du liebst ihn, und willst alles wieder hochkommen lassen?
    – Ich will jetzt gehen, bitte lass mich, Leni.
    – Du zerstörst unsere Familie.
    – Es ist eben jetzt so. Und hätte ich gekonnt, glaub mir, dann hätte ich mir ein anderes Leben ausgesucht.
    Mit einem Taxi fuhr ich heim, und bevor ich den Schlüssel im Schloss hatte, wusste ich, dass etwas unwiderruflich verloren war. Ich wusste nur noch nicht, was. Ivo lag ausgestreckt auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Auf dem Nachttisch lag eine kleine Tüte mit weißem Pulver.
    In den anderthalb Jahren, die ich damals mit Ivo zusammenlebte, fand ich heraus, dass er Früchtemüsli verabscheute, dass er Birnen am liebsten nachts im Bett nach dem Sex aß und dass er es immer noch liebte, meine Haare zu einem Zopf zu flechten. Dass er beim Tippen in seinen Computer völlige Ruhe brauchte und dass er deswegen sogar den Stecker des Kühlschranks aus der Steckdose zog, weil er angeblich auch das Brummen des Kühlschranks nicht ertragen konnte. Ich fand heraus, dass er mich morgens im Schlaf betrachtete, dass er unglaublich schön küssen konnte, so, als würde er mir wieder einen Neuanfang schenken, dass er kindisch und launisch war, dass er schlecht kochte und doch immer darauf beharrte, selbst zu kochen. Ich fand heraus, dass er andere Frauen magisch anzog und genauso stark abstoßen konnte, weil er so unglaublich grausam sein konnte und sie damit bloßstellte. Dass er trank, sehr viel trank und dass er immer wieder vor irgendwas, vor sich selbst, vor etwas, was ich nicht fassen, nicht erkennen, nicht benennen konnte, floh. Dass er Angst vor Spinnen hatte und dass er manchmal, selten, alleine auf der Fensterbank saß, in den Himmel starrte und dabei feuchte Augen bekam.
    Ich fand heraus, dass er komische Freunde hatte und dass er, ohne etwas zu sagen, verschwand, einfach so, irgendwo hinging und manchmal erst nach Tagen zurückkam, mit dem gewohnten Grinsen auf den Lippen, als sei es das Normalste der Welt, einfach so abzutauchen.
    Ich fand heraus, dass er drei verschiedene Zahnbürsten hatte. Dass er mich im Stich ließ und es manchmal nicht ertrug, wenn ich ihn an ihn selbst erinnerte. Dass er, wenn er aggressiv wurde, Dinge an die Wand schmetterte. Dass er jähzornig war und so laut brüllen konnte, dass mir die Ohren wehtaten. Dass ich manchmal Angst vor ihm bekam, dass er Drogen mitbrachte und irgendwelche Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte, behauptete, es seien alte Freunde, die nur ein paar Tage bei uns bleiben würden. Ich fand heraus, dass er mir diese Nähe schenkte, sich tagelang mit mir in der Wohnung einschloss, alle Aufträge verschob, Essen in die Wohnung bestellte, mit mir Wein trank, das Telefon aus der Steckdose zog, mir unendlich viel zuhörte, mir unendlich viel erzählte, und hasste es umso mehr, dass er mir dann diese Nähe entzog, indem er tagelang verschwand, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
    Monatelang ging das so. Und monatelang schrie Frank, bedrängte mich Leni und schwieg Tulja.
    Ich wurde zu einem Gespenst meiner selbst. Zu einem Zwischenwesen – zwischen Ivos Liebe und Verachtung.
    Eines Nachts folgte ich ihm, als er wieder einmal ohne jegliche Ankündigung die Wohnung verließ und nicht sagte, wohin er wollte und wann er zurückkäme. Ich folgte ihm in einen Club, der sich im Keller eines Hinterhofs versteckte, wo Drogen fast genauso selbstverständlich verkauft wurden wie Alkohol. Es spielte eine Rockband, es herrschte eine Enge, dass ich Atemnot bekam. Ich beobachtete ihn, wie er sich eine Linie nach der anderen durch die Nase zog, Wodka hinterherspülte, sich mit irgendwelchen Typen unterhielt und einer Frau mit rasiertem Kopf einen endlos langen Zungenkuss verpasste. Ich ließ mir von jemandem irgendwelche Pillen aufschwatzen. Ich nahm eine davon und spülte sie mit Alkohol hinunter. Ich ließ mich von jemand anderem gegen die kalte Wand pressen und begrabschen.
    Irgendwann fand ich mich mitten in einer Schlägerei wieder. Einer lag auf dem Boden und blutete stöhnend aus

Weitere Kostenlose Bücher