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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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so zu tun, als wärst du einer, der das Wort Probleme noch nie gehört hat.
    – Mir geht es gut, und ich habe gute Laune, was soll ich mich da verstellen?
    Ich sah ihm zum ersten Mal an dem Abend direkt in die Augen, und ich hasste ihn in dem Moment. Ich stand auf und lief davon; die Aussicht, die Nacht mit ihm unter einem Dach zu verbringen, schien mir unerträglich.
    Ich ging alle Dorfkneipen ab, in der Hoffnung, etwas Ablenkung zu finden, fand nur eine einzige, die nicht geschlossen hatte, eine kleine Bar in einer Pension, wo ich bis zum Morgengrauen blieb und mich mit Wodka betäubte. Von einem Taxi ließ ich mich halbtot nach Hause kutschieren.
    Die Monate danach verbrachte ich im Dämmerzustand. Ich studierte und langweilte mich, hasste mein Leben, hasste die WG, die Menschen, hasste die Straßen, die Stadt, meine Familie und den Begriff Glück, das ich für eine Illusion hielt.
    Auf Empfehlung meines Vaters durfte ich für ein paar linke Zeitungen kleine Berichte schreiben, die nie so radikal, so wortgewandt, so bissig, so auf den Punkt gebracht schienen wie die von Ivo, die Tulja – im Unterschied zu meinen – alle aufhob und in einer weißen Schachtel aufbewahrte.
    Im Frühjahr verbrachte ich ein Austauschsemester an der New Jersey City University und wohnte bei meiner Mutter. Ich ließ sie für mich kochen und mich gesund pflegen. Es war die Zeit, in der es zum ersten Mal nach vielen Monaten vorkam, dass ich nicht täglich an Ivo denken und mich mit ihm messen musste.
    Kurz vor meiner Abreise, meine Mutter hatte alles getan, um mich zu überreden, in Amerika zu bleiben, lernte ich Kasper kennen, der unheimlich klug war, James Joyce liebte und aus Bremen kam. Er schaffte es, mich länger als fünfzehn Minuten in ein Gespräch zu verwickeln, mich zum Konzert einer Rockband mitzuschleifen, die kein Mensch kannte, die er jedoch vergötterte, mit mir essen zu gehen, mir aus Büchern vorzulesen, mir die schönsten Kneipen zu zeigen und für mich einen Song zu schreiben, der schief klang und unheimlich rührend war. Und dann ging ich mit ihm ins Bett. Und blieb länger als geplant in New Jersey und machte meiner Mutter damit Hoffnung, mich doch umstimmen zu können. Kasper belegte an der Universität Kurse in Ästhetik und Altrömischer Architektur, beides Fächer, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, und er amüsierte mich.
    Im Herbst kehrte ich mit Kasper nach Deutschland zurück und begann zwischen Bremer Nächten und Hamburger Tagen hin- und herzupendeln.
    Er war sanftmütig, entspannt und klug, er kannte Dinge, die ich nicht kannte und die ich ohne ihn nie kennengelernt hätte, Dinge wie: dass man bei Vollmond in seelische wie körperliche Ekstase geraten kann, wenn man sich nur in den richtigen Stellungen liebt, und Dinge wie römische Architekturdenkmäler, die nicht mehr existierten. Kasper war die schönste Ablenkung für mich seit langem.
    Und so blieben wir aneinander hängen, wussten beide, dass es nicht die Liebe war, die wir uns wünschten, doch hatten den Willen, sie zu einer solchen zu machen.
    An einem Oktobermorgen schloss ich mein Fahrrad auf, um zum Seminar zu radeln, zu dem ich eh schon zu spät kommen würde, und da stand er vor mir. Ivo. In einer alten Lederjacke und mit wirren Haaren. Er rauchte eine filterlose Zigarette und kaute an seinem Daumennagel. Er stand da, als hätte er darauf gewartet, dass ich aus der Tür komme. Ich erschrak und taumelte ein wenig zurück. Er hatte gerötete Augen und schien Gleichgewichtsprobleme zu haben. Ich ließ mein Rad stehen und ging auf ihn zu.
    – Alles okay? war, was mir als Erstes einfiel.
    – Mir geht es nicht so gut. Können wir zu dir gehen?
    – Woher weißt du, wo ich wohne?
    – Du bist meine Schwester, Stella.
    – Und seit wann bin ich das?
    – Mir geht es nicht so gut.
    Da merkte ich, dass die Farbe aus seinem Gesicht gewichen war und er anfing, ernsthaft zu taumeln, als würde er gleich umfallen. Ich stellte mich an seine Seite, legte seinen Arm um meine Schulter und schleppte ihn in den dritten Stock, in meine Wohnung, in mein Zimmer und legte ihn aufs Bett. Meine Mitbewohner waren nicht da, und die Wohnung war in vertraute Morgenruhe versunken. Die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen brachen durch die Fenster und riefen eine Lichtstimmung hervor, die einen ganz ehrfürchtig werden ließ.
    Ivo schlief sofort ein. Ich hatte in der Küche ein Aspirin aufgetrieben und kam mit dem Wasserglas ins Zimmer zurück, sah ihn schlafend

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