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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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Kassetten von früher, die er hütete und pflegte. Musik wie diese Musik hätte er als Schnulze abgetan. Ich spulte nach vorne: Es war eine vollständige BEST OF. Ich traute meinen Ohren nicht.
    Dann machte ich Ivos Laptop an. Das hatte ich noch nie getan. Es hatte mich nie interessiert, es war ein Arbeitsgerät, mehr nicht.
    Das Passwort; ich überlegte und gab alle Begriffe ein, die mir einfielen, Familiennamen, Orte, an denen Ivo gelebt hatte. Nichts. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch.
    Dann tippte ich intuitiv, wahllos und gedankenverloren, und auf einmal machte es ein kleines Geräusch, und ich war drin. Ich richtete mich auf und überlegte, was ich da eingegeben hatte. Es waren M, und es war … Es war EMMA. Emma. Ich schrak auf und merkte, wie ich vor lauter Anspannung schwitzte.
    Im »Tiflis«-Ordner fand ich banale Informationen über die Stadt, das Land, Lado, immer wieder Lado, aber nur die bekannten Seiten, Artikel, nichts Neues.
    Irgendwann entdeckte ich einen mit »S« bezeichneten Ordner und klickte ihn an.
    Fotos – unzählige Fotos aus unserer Kindheit. Alle fein säuberlich gescannt und abgespeichert. Alle sorgfältig nummeriert. Mit Datum und Ort versehen. Bilder von Niendorf: Leni und ich im Baumhaus. Vater und ich in Tuljas Küche beim Gulaschessen. Ostern 1987, im Garten, mit Tuljas Rosinenkuchen auf dem Gartentisch. Newark, 1982: Leni, ich und Ivo auf James’ Schoß. Gesi im Hintergrund beim Picknickeinpacken. 1983: Ivo und ich am Strand, Ivo in kurzen roten Badeshorts und ich in einem weißen Baumwollunterhemd, mit Sand in den Haaren und genervt in die Kamera blickend. Leni und ich beim Puppenhausbau in der Scheune, 1981. 1984: Ivo und ich auf einer Wasserrutsche im Hallenbad von Niendorf. Ich erinnerte mich so genau an den Tag: Ich hatte mir den Fuß verletzt, weil ein anderes Kind auf mich draufgeprallt war, und Ivo hatte mich den ganzen Abend getröstet. Vaters Geburtstag, 1987, bei ihm in Hamburg, mit einer Dame an seiner Seite, an die ich mich nur noch vage erinnerte. Und dann ein Foto, unbeschriftet, ohne Zeit und Ortsangabe, in Schwarzweiß. Ein Bild, das ich nicht kannte. Nie zuvor gesehen hatte. Obwohl ich selbst auf dem Bild abgebildet war. Ich erinnerte mich nicht an den Tag. Ich starrte auf den Bildschirm.
    Es war der herbstliche Garten des Hauses am Hafen. Im Hintergrund sah man den schwarzen Hund. Der Boden war mit Laub bedeckt. Im Zentrum stand ich mit Pagenfrisur, dem roten Schal, den mir meine Mutter gestrickt hatte, und einer Latzhose aus Jeansstoff. Ich hatte eine Regenjacke an und hatte meinen Finger im Mund. Gleich hinter mir, im Profil, stand Ivo; er schaute nicht in die Kamera, sondern zu mir. Er trug Gummistiefel, an die ich mich noch klar erinnern kann, und eine Baseballkappe, die ihm sein Vater aus der Schweiz mitgebracht hatte. Das Klicken, die Kamera muss uns überrascht haben. Während ich verunsichert in die Linse starre, starrt Ivo mich an, als wolle er mich vor etwas warnen, als wolle er mich vor dem Klicken schützen. Sein Blick ist aufgewühlt, besorgt. Ein Blick, den er sich all die Jahre bewahrt hatte, ein Blick, der voller Angst war und doch die Angst verhüllte, statt sie der Außenwelt mitzuteilen. Ich schloss kurz die Augen.
    Wer hatte das Foto gemacht? Frank, Emma? Wieso kannte ich es nicht? Hatte ich überhaupt wahrgenommen, dass man uns fotografierte? Wenn Ivo die Baseballkappe und ich meinen Regenmantel anhatten, dann war es kurz vor dem Ende; wenn wir so vertraut im Garten standen, dann waren Ivo und ich schon unzertrennlich; wenn es Herbst war, dann … Dann würde Emma bald sterben. Ich druckte das Foto auf einem DIN-A4-Blatt aus, und in meinem Notizheft versteckt packte ich es schließlich in meine Handtasche.
    Warum archivierte er uns, warum archivierte er mich?
    Ivo hatte ein Gedächtnis, das messerscharf war, das nie etwas vergaß, keine Nuance, kein Detail ausließ, das auch das Unausgesprochene eines Moments behielt. Warum nur hielt er hier so akribisch sein Leben fest? Es waren auch ein paar Artikel abgespeichert, deren Existenz ich längst vergessen hatte. Sogar ein Hochzeitsfoto von Mark und mir: ich im schlichten weißen Cocktailkleid und Mark im schwarzen Smoking am Eingang des Rathauses. Das Foto musste er bei Frank mitgenommen haben oder bei Tulja.
    Ich saß fassungslos vor dem Laptop. Ich ging auf und ab, setzte mich hin, sah mir immer wieder die Bilder an, klappte den Laptop zu, öffnete ihn wieder. Es ging um uns. Es ging um

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