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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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trocken.
    Ich hatte Ivo zum Ersatz meines Lebens gemacht, ihn in eine Position gebracht, von der aus er mit mir machen konnte, was er wollte. All die Jahre hatte ich mir das nie eingestehen wollen, doch dort, damals in diesem fernen Land, in diesen Geschichten, die ich nicht entschlüsseln konnte, sollte ich es mit schmerzlicher Klarheit verstehen.
    Die reservierte Brünette begleitete mich zu einem Tisch. In dem düsteren Bau des Nationalarchivs war es so unheimlich kalt, dass meine Zehen sich trotz der Junihitze draußen zusammenzogen. Man hatte mir eine unscheinbare, sehr verschlossene Germanistikstudentin zur Seite gestellt. Auf dem Tisch lagen drei überquellende Aktenmappen und fünf Videokassetten.
    Als ich sieben Stunden später das monströse sozialistische Bauwerk verließ, wusste ich, dass Lados Frau in Suchumi, in den Tagen der Okkupation, bei Bombenangriffen ums Leben gekommen war. Ich wusste auch, dass Lados Tochter dort gestorben war, aber nicht, ob sie unter den Opfern der Hinrichtungen oder Bombenangriffe gewesen war oder unter welchen Umständen sie zu Tode kam.
    Ich wusste, dass in Abchasien im Jahr 1992 mit Unmengen an Heroin gehandelt wurde und dass der Waffenhandel unter Separatisten fast 19 Millionen Dollar eingebracht hatte. Ich wusste, dass Abchasen und Georgier sich gegenseitig mit Bomben beschossen, die aus Russland stammten. Ich wusste, dass die UN sich erst ganz am Ende des Kriegs mit dem Konflikt befasst hatten und dass die Medien diesen Krieg totschwiegen. Ich wusste, dass der damalige georgische Präsident von russischer Seite der Hetze gegen die Minderheiten des Landes und damit des Völkermords beschuldigt worden war. Dass die georgischen Truppen größtenteils aus Zivilisten bestanden, die man mit Geld, Waffen oder Drogen oder einfach nur mit Ruhm und Ehre zum Kämpfen brachte. Ich wusste, dass neben russischen Milizen auch tschetschenische Guerillakämpfer unter einem gewissen Bassajew beteiligt gewesen waren an dem Massaker an Georgiern von 1993, mit vielen tausend Toten und einer Viertelmillion georgischer Flüchtlinge. Die Unkoordiniertheit der georgischen Truppen wurde unter anderem als Grund dafür angegeben, warum es erst 1994, nach drei Anläufen, zu einem Waffenstillstand kam, der nach UN-Richtlinien als solcher gelten konnte. Ich wusste, dass die 50 000 Flüchtlinge, die später in ihre Heimat zurückgekehrt waren, 1998 wieder vertrieben wurden. Letztlich aber wusste ich auch nichts, nach sieben Stunden. Die Videos hätte ich mir lieber nicht angesehen, und ich kannte jetzt den Grund, warum die Studentin den Raum mit einer höflichen Entschuldigung verlassen hatte, als ich den Videorecorder startete. Sie wusste, was auf den Bändern zu sehen war.
    Ich wanderte durch die Straßen, hielt ein Taxi an. Ich nannte kein Ziel, ließ mich eine Weile durch die nächtliche Stadt fahren. Schließlich bat ich den Fahrer, mich in der Altstadt, am Flussufer, abzusetzen. Ich ging in das Lokal, in dem Ivo und ich fast jeden Tag zu Mittag aßen.
    Was aber war es, das Lado damals erlebt hatte, als er als Brigadeführer in Suchumi stationiert war? Warum konnte er Frau und Tochter nicht in Sicherheit bringen, und wie konnte es sein, dass Buba noch am Leben war? Buba, der damals erst ein paar Monate alt war. Wieso lebte er und wieso lebte sein Vater, während seine Mutter und seine Schwester tot waren? Ich legte den Kopf auf die Tischfläche, dann wählte ich Lados Nummer auf meinem Handy. Ich bat ihn herzukommen. Er schien irritiert, sagte mir jedoch schließlich zu.
    Eine halbe Stunde später saß er vor mir an meinem Tisch und starrte mich verunsichert an.
    – Ist alles in Ordnung?, fragte er mich in seinem schweren Deutsch.
    – Ja und nein. Ich war heute im Archiv und habe mich mit Abchasien beschäftigt. Bitte sag mir, worum es geht. Ich muss es wissen. Was wollt ihr? Was habt ihr vor? Was hast du vor?
    – Ich fahre im Juli nach Abchasien, mit Ivo. Er wird mir mit seinem Ausweis den Passierschein verschaffen. Ich muss da jemanden treffen. Jemanden, der die letzten Tage dabei war, beim Massaker.
    – Wie kam es, dass deine Frau …
    – Sie hatte mir versprochen, die Stadt zu verlassen. Ich hatte ihnen ein Auto geschickt mit zwei meiner Leute. Aber sie war nicht mehr da. Einfach verschwunden.
    – Und Buba?
    – Buba war bei seiner Großmutter in jener Nacht. Seine Großmutter ist abchasischer Abstammung. Meine Frau hatte eine abchasische Mutter und einen georgischen Vater. Aber sie war

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