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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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mich.
    Glaubte man Tulja, dann wäre die Welt nichts anderes als ein Gewebe aus Geschichten, aus einzelnen Geschichten von Menschen, Ländern, Zivilisationen und Göttern, deren Sprache wir noch nicht entziffert hatten. Für ein Kind eine faszinierende Vorstellung: die Welt wie ein buntes Wollknäuel, mit verschiedenen Fäden ineinander verwoben.
    Hier vor dem »S«-Ordner sitzend, dachte ich zum ersten Mal wieder an Tuljas Bild vom Zusammenhalt der Welt. Wie ich hier in diesen Ordnern mein Leben vor mir sah: archiviert und festgehalten durch diese Fotos, diese Daten und Orte, diese Menschen, die auf den Bildern neben mir oder hinter mir oder vor mir standen. Es war ein Fremdes, das mir auf diesen Bildern begegnete. Als hätte ich ein zusätzliches Zimmer in einem Haus entdeckt, in dem ich schon seit Jahren wohnte.
    Schließlich schaltete ich den Laptop aus und setzte mich auf die winzige Terrasse. Im Hof spielten Kinder, im zweiten Stock lief Musik, ein Schlager aus den 80ern. Jemand stieg aus dem Geländewagen und rief einen komisch klingenden Namen. In irgendeiner Nachbarwohnung kochte man Hühnerbrühe, denn der unverfälschte Geruch aus meiner Kindheit entlockte mir ein Lächeln.
    Ich duschte, in der Hoffnung, das Wasser würde meinen Kopf etwas kühlen, und lief dann stundenlang ohne festes Ziel durch die Straßen und dachte weiterhin über das Bild nach, das ich in meine Handtasche gesteckt hatte. Als ich müde wurde, hielt ich ein Taxi an und fuhr zu Lados Haus.
    Der Lärm drang bis auf die Straße. Ich klingelte mehrmals, bis Buba stürmisch die Tür aufriss. Er fiel mir um den Hals und wackelte mit dem Hintern.
    – Party!, schrie er mir durch die laute Musik ins Ohr und strahlte mich an.
    – Und was feiern wir?, brüllte ich zurück, als wir ins Haus gingen.
    – Alles. Keine Ahnung. Den Sommer oder so was?
    Das Wohnzimmer war voller Menschen. Man spielte Gitarre. Wein stand in hohen Behältern auf dem niedrigen Tisch. Menschen saßen auf dem Boden, standen in den Ecken. Ein junger Mann in einem Che-Guevara-T-Shirt erzählte aufgeregt irgendeine Geschichte, die ich nicht verstand. Eine großgewachsene Frau stand in der Küche am Herd und bereitete etwas vor. Ivo und Lado konnte ich nirgends finden. Buba nahm mich an der Hand und stellte mich jedem Einzelnen vor. Die meisten waren Künstler, Lados Kollegen, aber auch Nachbarn und Bekannte waren eingeladen. Sie schien eine innige Freundschaft mit Lados Familie zu verbinden, oder sie waren aus purer Lust am Feiern hier. Buba flüsterte mir im Schnelldurchlauf die nötigsten Informationen ins Ohr:
    – Der da mit den Pferdezähnen ist ein uralter Freund von Lado. Er hat ein kleines Studio, da gehen viele Musiker hin. Die Frau mit den großen Brüsten ist die Freundin von dem da, und der ist ein Bildhauer, unser Nachbar, der ist geschieden und hat fünf Kinder. Und die da am Herd ist Salome, sie kann auch Deutsch, sagte er und führte mich zu ihr. Die großgewachsene Frau drehte sich um und lächelte mich entschuldigend an, ihre Hände waren voller Mehl.
    – Schön, dich einmal kennenzulernen, sagte sie und wischte sich die rechte Hand an einem Küchentuch ab und streckte sie mir entgegen. Hab schon viel von dir gehört. Ivo kennen wir ja alle. Und auf dich haben wir gewartet.
    Ich war schon mehrfach in dem Haus gewesen, hatte sie aber weder gesehen, noch hatte ich gewusst, dass Lado eine Freundin hatte. Denn sie war definitiv nicht nur einfach befreundet mit ihm. Das hörte ich an Bubas Ton. Sie sei gleich mit dem Essen fertig und dann für mich da, sagte sie, und Buba zog mich weiter. Wir gingen zum Rauchen vors Haus.
    – Ist sie Lados Freundin?, fragte ich, während er an meiner Zigarette zog.
    – Seine Geliebte ist sie, sagte er etwas gereizt.
    – Magst du sie nicht?
    – Geht so.
    – Sie scheint nett zu sein.
    – Sie ist heiß. Sagen alle.
    – Heiß?
    – Na ja, du weißt schon.
    – Ist sie schon lange …?
    – Voll lange. War auch in Berlin bei uns, und als wir zurückkamen, kam sie auch mit. Aber Salome war mit meiner Mama befreundet. Also mein Vater kennt sie voll lange, meine ich.
    – Verstehe. Dann liebt sie euch, dich und deinen Vater wohl sehr.
    – Keine Ahnung, interessiert mich nicht. Soll sie sich lieber um ihr eigenes Kind kümmern.
    – Sie hat ein Kind?
    – Ja, einen Sohn. Ist älter als ich. Wohnt aber bei seinem Papa!
    Ich musste daran denken, dass jemand, der meinen Sohn nach seiner Mutter fragen würde, wohl eine ähnliche

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