Mein Sanfter Zwilling
meine Frau. Das wussten alle. Sonst hätte sie eine Chance gehabt. Zuvor hatte sie sich geweigert, die Stadt zu verlassen, weil ihre Freunde, ihre Kollegen, ihre Mutter dort lebten und keiner damit rechnete, dass es dazu kommen würde. Zu dieser Schlacht, Massenschlacht, Menschenschlacht.
Ich wollte nach der Tochter fragen, aber ich wagte es nicht, fragte stattdessen:
– Wie kam es, dass du in die Politik gegangen bist?
– Es war Zeit. Es musste etwas passieren. Der russische Druck wuchs. 1989 wusste man, Georgien würde den Austritt aus der Sowjetunion verlangen. Das Baltikum und Georgien waren damals die Brennpunkte, das Baltikum konnte man nicht aufhalten, da lag Europa einfach zu nah, während wir hier in Georgien von allem abgeschnitten waren. Dass die Russen dann begonnen haben, Druck auf die Minderheiten zu machen – damit haben wir nicht gerechnet. Keiner dachte daran, als wir 1989 auf die Straße gingen, dass es zum Bürgerkrieg kommen könnte. Doch der Zerfall war unaufhaltsam. Damals gab es ein paar kluge Köpfe, eine Art Intelligenzia, die ohne Blutvergießen die Freiheit erlangen wollte, ich schloss mich denen an. Es waren viele Künstler darunter. Viele mit einer exzellenten Bildung. Die, auf die es ankam, wurden dann bald aus dem Weg geräumt, und die, die blieben, hatten recht schnell keine Kontrolle mehr darüber, was sie taten. Ich habe einfach viel zu lange gehofft, das war mein Problem. Ich habe lange gedacht, die Leute kommen zur Besinnung, wir müssen zusammenhalten, ich habe so lange gehofft, bis ich mich mitten im Krieg befand. Ich wusste, da werden Kinder sterben, Kinder, die so alt sind wie Buba jetzt, und da konnte ich nicht zu Hause bleiben. Da war es schon zu spät. Hey, ich habe in Russland studiert, aber ich hätte nie geglaubt, dass der KGB mehr Gewicht haben würde als Tschaikowsky. Aber so war meine Generation. Ein wenig links, soweit es die Umstände zuließen, und ein wenig rebellisch, aber nur ein wenig. Levi’s tragen, Beatles hören. Das war unsere Revolte. Es waren viele richtige Menschen damals um mich. Aber die Hoffnung, die Hoffnung hat mich geblendet und … Er brach ab und sah mich an. Dann legte er seine behaarte Hand auf meine und sagte kaum hörbar, eher flüsternd:
– Manchmal, da ist es, als würde man in den Spiegel schauen, und der Spiegel ist zerbrochen. Ivo ist ein Segen in meinem Leben. Er hat mir vieles wiedergegeben, was ich verloren glaubte.
Ich sah ihn an und empfand Mitleid, und ich fragte mich, warum Ivo ausgerechnet seine Geschichte ausgesucht hatte, um irgendwelche Parallelen zu sich zu ziehen. Was hatten all diese Kriegsgeschichten mit ihm zu tun? Und war das nicht ausnutzend, unprofessionell und höchst egoistisch, sich fremde Geschichten zu eigenen Zwecken auszusuchen?
– Was wollt ihr in Abchasien? Es ist doch nach wie vor gefährlich für Georgier?, fragte ich irgendwann, kurz bevor wir das Lokal verließen.
– Ivo ist kein Georgier.
– Du siehst aber nicht gerade sehr europäisch aus.
– Ja, aber ich bin in Ivos Begleitung.
– Wen willst du da treffen?
– Jemanden, der weiß, warum meine Frau sich damals nicht in das Auto gesetzt hat, das ich ihnen geschickt hatte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Ivo schon fort, hatte mir auf einem Zettel hinterlassen, dass er mit Lado Aufnahmen machen wolle und dafür in ein örtliches Studio ginge. Er schrieb, ich solle abends zu Lado kommen, es würde ein Essen mit ein paar Freunden geben. Ich machte mir in der geschwärzten Kanne Kaffee und schlich mich in Ivos Zimmer. Auf dem Tisch ausgebreitet lagen Mappen und Fotos, unzählige Zeitungsausschnitte aus den 1990ern und Bilder von Abchasien und dem verbrannten Tiflis kurz nach den Unabhängigkeitsdemonstrationen von 1989. Ich las politische Artikel aus der deutschen und amerikanischen Presse, deren Kopien Ivo ordentlich in einen Ordner sortiert hatte. Ich blätterte in einem englischen Buch über georgische Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Nichts, was mir die Geschichte hinter der Geschichte hätte erklären können.
Ich rauchte und kramte weiter. Der staubige Wind wehte durch das offene Fenster und wirbelte die Asche im Aschenbecher auf. Ich schaltete den mit Tesafilm reparierten Ghettoblaster an, eine Kassette war eingelegt: Anita Baker. Ich erstarrte. Ich drehte die Musik lauter. Ivo würde niemals im Leben Anita Baker hören. Ich kannte seine Platten, seinen Musikgeschmack, seine sorgfältig zusammengestellten
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