Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
fragt er sich, was wohl passieren würde, wenn er für eine begrenzte Zeitspanne wirklich die Gabe hätte zu heilen? Vielleicht nur für vierundzwanzig Stunden, während der er alles richten könnte: körperliches wie seelisches Leid, einfach alles. Einzige Bedingung: Der- oder diejenige müsste sich von ihm die Hand auflegen lassen. Wäre ja eigentlich nicht viel verlangt. Trotzdem würde er nach seinen Lebermissions-Erfahrungen wahrscheinlich keinen einzigen Delinquenten finden, zumindest nicht unter seinen kleinmütigen Freunden. Aber er könnte ja auch nicht einfach so in das nächstbeste Krankenhaus fahren und sich an irgendein Bett setzen. Die Krücken, noch mehr aber der Rollstuhl, würden seine Glaubwürdigkeit untergraben.
Seine Gabe bliebe höchstwahrscheinlich ungenutzt. Auch einen Ruf als Wundertätiger muss man sich anscheinend hart erarbeiten. Hat man ihn dann einmal, ist es seltsamerweise fast egal, ob man wirklich heilen kann.
Es wundert mich mittlerweile nicht mehr, dass du bei solchen Gedankenexperimenten nicht einmal auf die Idee kommst, dich während der vierundzwanzig Stunden wenigstens selbst zu heilen. Es ist wie bei der Geschichte mit der Beterei am Abend, da kommst du vor lauter Sorge um die Tengelmann-Verkäuferin auch nicht mehr vor … – Andererseits würde mir ein Mensch, der als Erstes immer an sich denkt, auch nicht gefallen.
27.
Manchmal ist die Lösu n g furchtbar simpel: Trost ist, eine Geschichte erzählt zu bekommen.
Max spürt, dass er sich in eine Sackgasse gebetet hat.
Seitdem er großzügig Zufallsbegegnungen in sein Abendgebet einbaut, bekommt es mehr und mehr den Charakter eines nicht enden wollenden Jahresrückblicks im Fernsehen. Auf die Fremden folgen die Freunde mit ihren kleinen und größeren Leiden. Immer ist irgendwas, kein Tag, an dem er nicht noch jemand ins Programm nehmen muss. Mal ist es Sandras schwerkranke Mutter, mal der von seinem Freund verlassene Andreas. Und nun sind auch noch die Toten dazugekommen. Wie konnte er die bislang nur vergessen? Um deren Heil muss man sich doch besonders kümmern, wo sie selbst es nicht mehr können.
Aus Zeitnot kürzt er von Tag zu Tag mehr ab, die konkreten Bitten verwandeln sich in allgemein gehaltene Besserungswünsche. Recht pauschal betet er nun nur noch darum, dass sich alle irgendwie gut durch den Tag wurschteln mögen. Es möge einfach allen gut gehen. Dabei lässt er sowohl offen, wer damit gemeint ist, als auch, was » gut« eigentlich bedeuten soll.
Auch mit dem Vaterunser hat er erneut Schwierigkeiten. Obwohl er es nun flüssig herunterschnurren kann, stockt er, weil ihm erst jetzt auffällt, dass es mit Imperativen gespickt ist: Tu dies, tu das, lieber Gott, erlöse uns, führe uns nicht in Versuchung … – keine einzige Bitte, kein vielleicht, kein: Du könntest doch mal … Er würde sich an seiner Stelle diesen Ton verbitten, sich zumindest stumm stellen.
Max, der noch nie über das Erdgeschoss hinausgekommen ist, weiß nicht, dass das Bett der Nachbarin genau über ihm steht. Während er betet, denkt sie über ihn nach. Nicht direkt über ihn, eher über eine Äußerung, die sie aufgeschnappt hat. Max saß, die Krücken auf dem Schoß, mit einem hageren Freund vor dem Haus, beide auf Klappstühlen. Anscheinend hatten sie sich über seine Krankheit unterhalten, denn Max sagte: » Das will ich gar nicht so genau wissen.«
Sie versteht das nicht. Gerade in seiner Situation, da würde sie doch alles wissen wollen, was es gibt. Kein Forschungsergebnis, keine einzige Studie würde sie sich entgehen lassen.
Ihrer Schwester soll am nächsten Tag die Halsschlagader erweitert werden. Sie muss sich ganz genau vorsagen, wie der Oberarzt den Eingriff erklärt hat, sonst wird ihr schlecht. Je genauer, desto besser. Es lindert ihre Aufregung, wenn sie sogar seine Worte verwendet. Wie ein Bannspruch. Nur ein Restrisiko bliebe von zwei Prozent. Solche Zahlen trösten sie. Wie kann man so etwas in den Wind schlagen? Schon die Diagnose hat sie beruhigt, mehr noch als ihre Schwester selbst. Dass deren diffuse Schmerzen, ihre Angstattacken, die auf sie übergesprungen waren, endlich einen Namen bekommen hatten. Nun kann man dagegen vorgehen, etwas unternehmen. Allein aus diesem Grund muss man alles erfahren, alles wissen.
Man könnte meinen, dass sich die Menschen, wenigstens wenn es um ihr Glück geht, auf eine allgemeingültige Formel einigen könnten. Zumindest mir würde das die Aufgabe erleichtern. Aber nein,
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