Mein schwacher Wille geschehe
immergleiche Geschichte. Ich ist ein anderer. »Wir Dicken machen gern selbstironische Scherze über uns«, schreibt Bartels, »schließlich haben wir einen Ruf zu verlieren, von wegen lustig und gemütlich und so weiter. Aber in Sachen tief empfundener Emotionen sind wir eine schweigende Masse. Was wäre denn, wenn wir uns ständig bewusst machen würden, wie wir auf andere wirken? Wenn wir uns die Blicke der Leute – zwischen abschätzig und mitleidig – wirklich zu Herzen nehmen würden, ganz zu schweigen von den offenen Hänseleien? Wenn wir beständig darüber nachgrübeln würden, welche Probleme wir bei H&M haben, weil Jeans über Bundgröße 36 dort nicht verkauft werden? Wie sehr unsere Knochen und Gelenke unter unseren Pfunden leiden? Wie verzweifelt wir oft sind, weil wir durch das Leben rollen wie eine langsame, schnaufende Kolonne von 30-Tonnern in den Kasseler Bergen? Wir würden allesamt umgehend depressiv werden, zusätzlich zu den gesundheitlichen Risikofaktoren, die ohnehin schon mollig und bequem auf unseren Hüften lagern.« 4
So vielfältig das Dickenschema sich auch präsentieren mag: Es gibt Gründe, gut auf sich und seinen Körper aufzupassen. Er ist der wichtigste und direkteste Gradmesser der individuellen Erscheinung. Die Bearbeitung der Speckröllchen, Flaschenwaden und der schier unerschöpflichen Varianten von Auswuchtungen und Körperdellen ist inzwischen zu einem veritablen Industriezweig ausgewachsen, der von einer erstaunlichen Vielfalt von |52| Bekenntnissen begleitet wird. Das öffentliche Besteigen von Gewichtsmessgeräten hat tiefe Textspuren hinterlassen, die auf vorausgegangene Vernachlässigungen hindeuten. Das Verständigungsgerede über Gramm, Kilo und das unstillbare Bedürfnis, dergleichen endlich los zu werden, füllt meterweise Buchregale. Wo gesprochen wird ist Hoffnung, und sind die Beklemmungen erst einmal zu Papier gebracht, zeichnen sich bald Trainingspläne ab.
Es mangelt nicht an Ratschlägen zum Umgang mit der an Fassung verlierenden körperlichen Hülle. Jeder weiß was, jeder hat es schon versucht, wenigstens ein bisschen die Kontrolle zu behalten bei dem, was man auf die Waage bringt. Und nach dem Urlaub ist es dann doch wieder passiert. Dabei hat man am Buffet aufgepasst und ist doch täglich spazieren gegangen. Wer bereits in den Kontrollmodus übergegangen ist, macht rasch die Erfahrung, dass es hilft, mit der Sprache herauszurücken. Wer Gewichtsprobleme hat und sich auch noch traut, sie zu artikulieren, wird nicht als Fresssüchtiger betrachtet, mindestens aber mit etwas mehr Nachsicht behandelt. Wie unter Hundebesitzern erkennt man sich als Bündnispartner und Leidensgenosse, ohne gleich im Bewusstsein von Aussätzigen weiterleben zu müssen. Der Club der Korpulenten bittet um Aufnahme ins gesellschaftliche Vereinsregister. Wer zu schwer ist, kann leichter werden, und alle anderen können beim Projekt der aufopferungsvollen Selbstreduzierung zusehen. Der Kampf mit den Pfunden ist, wenn man so will, die öffentlichste Form des Umgangs mit Willensschwäche, ein Modellstudiengang mit vielen Anschlussmöglichkeiten und Quereinstiegen. Ab einem gewissen Alter steht fast jeder vor der Immatrikulation, und Anleitungen zur Erlangung und Beibehaltung des neuen Leicht-Sinns gibt es in allen nur denkbaren Medienerzeugnissen. Die Zeitschrift
Brigitte
hat das Laufprogramm »Run« mit Musik entwickelt, und noch die opulentesten Kochsendungen im Fernsehen referieren über gesundes Essen, |53| ernährungstechnische Standards und wie man am besten gar nicht erst zunimmt. Medienprominente, die wie der Ernährungswissenschaftler Hademar Bankhofer ihr Wissen in einem ordentlichen Beruf erworben haben, fungieren als Über-Ich jeglicher Verdauungsvorgänge. Die vermaledeiten Fettsäuren des letzten Kipferls entkommen ihm nicht, und als rettendes Hilfsmittel hat er stets noch ein Heidekraut auf Lager, dessen Wirkung immer noch allzu sehr unterschätzt wird. Dass Bankhofer dabei in den Verdacht der Schleichwerbung für solch ein Produkt geriet, ist keine besondere Ironie, sondern eine Art Berufsrisiko. Trotz alledem ist es erstaunlich, dass nicht von einer neuen Trimm-dich-Welle die Rede ist, für die in den Siebzigerjahren zahllose Waldschneisen mit Klettergerüsten ausgestattet wurden. Und weit und breit kein Bundespräsident, der zu einer neuen Wanderbewegung aufruft. Zwar gibt es überall Gehhilfen für
nordic walking
käuflich zu erwerben, und die Krankenkassen
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