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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
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grammweise. Wer das Wochenziel nicht erreicht hat, kann eine Auszeit nehmen und wiederkommen, wenn er wieder im Soll ist. In der Gemeinschaft erfreut man sich an den selbst gesteckten Zielen. Über das Gewicht des Einzelnen hinaus zählt auch das stetig sinkende Gruppengewicht. Folgerichtig wurde aus der Idee eine Fernsehshow entwickelt, die hierzulande von der schlanken Eiskunstläuferin Kathi Witt angeleitet wurde. Inzwischen ist
The Biggest Loser
aber schon wieder vom Speiseplan der Fernsehkonsumenten verschwunden.
    Die Vereine der willigen Gewichtsverlierer bringen unterdessen immer neue Gruppenführer hervor. Es herrscht Methodenkonkurrenz, |56| aber auch die Kritik daran ist ein einträgliches Gewerbe. Die nachfolgende kleine Auswahltypologie des öffentlichen Wiegens veranschaulicht, dass der Kampf mit dem inneren Schweinehund inzwischen unterhaltungstauglich ist. Gewitzte Autoren haben ein Marktsegment erschlossen, in das sie zu gleichen Teilen politische Moral, gesunden Menschenverstand und ausgeprägte Comedytalente einzubringen vermögen. Sie hatten, ein jeglicher auf seine Weise, ihr Damaskus-Erlebnis auf der Waage und konnten es nicht länger für sich behalten.
    Der Umprogrammierer – Joschka Fischer
    Am Vorabend der Verhandlungen im französischen Rambouillet, wo im Februar 1999 der Abschluss eines Friedensvertrags zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und dem Kosovo letztlich scheiterte, hatte Bundesaußenminister Joschka Fischer eine kleine Gruppe von Feuilletonjournalisten auf den Bonner Petersberg zu einem informellen Abendessen zu Gast. Fischer, der Umfragen zufolge als der beliebteste Minister der noch jungen Schröder-Regierung galt, suchte den Austausch mit den intellektuellen Meinungsmachern, deren Textproduktion nicht primär vom politischen Tagesgeschäft geleitet war. Fischer war geneigt, sich inspirieren zu lassen. Er wollte sein Politikverständnis durch den fremden Blick der anderen beleben. Die Kulturjournalisten ließen sich die ungewohnte Aufmerksamkeit gern gefallen. Fischer, der in diesen Tagen wie ein Mann voller Anfänge wirkte, dachte daran, die Runde in einer gewissen Regelmäßigkeit stattfinden zu lassen. Tatsächlich berief er sie später jedoch nur noch einmal ein. Nach Rambouillet wehte ein anderer politischer Wind, der ihm die Freude an folgenlosen kulturellen Plaudereien wohl ausgetrieben hatte. Im Februar 1999 aber war Fischer trotz der bevorstehenden schwierigen Verhandlungen ganz Ohr. Er hörte zu oder sprach über seine späte musikalische Entdeckung: |57| Richard Wagner. Man wurde den Eindruck nicht los, dass Fischer vor allem auch an einem kulturellen Schemawechsel gelegen war. Dazu wurde ein kalorienbewusstes Menu gereicht, an dem der Minister allerdings mehr mümmelte, als dass er herzhaft speiste. Er empfahl abwechselnd ausgesuchte Weiß- und Rotweine, die er jedoch nicht anrührte. Joschka Fischer war an diesem Abend mit seinem Mineralwasser unterwegs zu sich selbst. Sein autobiografischer Bericht mit dem Titel
Mein langer Lauf zu mir selbst
sollte kurz darauf als Buch erscheinen. 5
    Das Protokoll seines intensiven Lauftrainings und der Umstellung seiner Ernährungsgewohnheiten, in deren Prozess sich eine radikale Gewichtsabnahme einstellte, beginnt wie ein Referat über das Ernährungsdilemma in den postindustriellen Wohlstandsgebieten. »Die menschliche Zivilisation«, beginnt Fischer so nüchtern wie ein Ökobauer im Milchrausch, »verfügt über viele Segnungen und manche Krankheiten ...« Der Minister betreibt politisch korrekte Dehnungsübungen, ehe er die Geheimnisse eines äußerlich immer weniger zu verbergenden Lasters preisgibt, aus dem ihn schließlich ein mühsamer Prozess der Selbsterkenntnis, wie er im Verlauf des Buches nicht müde wird zu behaupten, wieder herausgeführt habe. »Dieses Buch hat kein Arzt, kein Ernährungsphysiologe, kein Therapeut, kein Sportmediziner, kein Trainer, kein Wissenschaftler und auch kein Laufprofi geschrieben, hier berichtet ein Betroffener von einem Selbstversuch, der erstaunlich positive Ergebnisse gebracht hat.« Fischer präsentiert sich als unangepasster Autodidakt, dem authentische Selbsterfahrung bei seinen Exerzitien wichtiger war als das gewissenhafte Einhalten von Trainingsplänen. Noch im Moment des grundsätzlichen Lebensstilwandels will er als Selfmademan der Politik derjenige bleiben, der die Kontrolle behält. Einer wie Fischer begibt sich nicht in die Obhut anderer, auch nicht von Trainern und

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