Mein schwacher Wille geschehe
gratifizieren mitunter die Anstrengungen körperlicher Ertüchtigung. Aber selbst der Aktionsplan gegen Fettleibigkeit, den die Bundesregierung aufgestellt hat, scheint sich als eine Art mentale Mobilmachung zu vollziehen. Morgen ist der Tag, an dem ich mit dem alles verändernden Bewegungsprogramm beginne. Weit davon entfernt, eine gesunde Nation zu sein, herrscht eine Art Alarmzustand, durch den der durchschnittliche Kassenpatient dazu gebracht werden soll, eine einschneidende Wende in seinem Leben einzuleiten oder sie wenigstens zu erwägen. Du bist Deutschland und sollst nicht rauchen, trinken und zu fett werden. Die armen Wenigen, die dergleichen dennoch tun, sind die Hoffnungslosen an der Ernährungsfront, denen nur noch Radikalkuren und Nachhilfestunden am Kühlregal helfen können. Ungläubigen dicken Eltern mit dicken Kindern wird in einschlägigen TV-Formaten eingebläut, dass Kartoffelchips suboptimal sind und sprudelnde Süßgetränke sich nicht zum Zähneputzen eignen. Diese Protagonisten des Alltags leisten ihren Teil zum gemeinschaftlichen |54| Ganzen als abschreckendes Beispiel oder stehen für den Rest derer, die das Schicksal in Form noch nicht heilbarer, monströs wuchernder Stoffwechselkrankheiten erwischt hat. Für alle anderen legt die so genannte Verzehrstudie der Bundesregierung von 2008 nahe, dass die Dicken Gefahr laufen, die neuen Asozialen zu werden. Wer über 90 Kilo wiegt, schädigt das Gemeinwohl. Wer nicht, wie prognostiziert, einem Herzinfarkt erliegt, fällt unweigerlich den Krankenkassen zur Last. Und so ist es geboten mitzumachen bei Spielen, wo Kalorien gezählt und Trennkostregeln eingehalten werden. Am eigenen Leib vergewissert sich die moderne Gesellschaft ihrer Fähigkeit zur Trendumkehr. Nichts ist festgelegt, nichts muss immer nur in eine Richtung gehen. Willensschwäche gibt es in diesem Verständnis nur, um sie bearbeiten zu können. Die Gesellschaft ist vielleicht nicht dankbarer dafür, sieht es aber gern, dass sie in den Dicken welche hat, an denen sich dieser Prozess für alle sichtbar studieren lässt.
Die Dramen auf der Waage vermögen zu erschüttern, was man bislang zu den Grundfesten gesicherter menschlicher Vernunft gezählt hatte. Einiges stammt aus dem Genrefach der Burleske unter Hinzuziehung neuester technischer Möglichkeiten. Wie der Nachtmensch, der des Morgens Schwierigkeiten mit dem Aufstehen hat und zur Behebung des Problems mehrere Wecker in fein abgestuften zeitlichen Abständen ihre Melodien abspielen lässt, besteigt der Füllige alle verfügbaren Messgeräte. Analog, digital und mit lichtempfindlichen Kollektoren. In der Welt des Wiegens ist kein Gramm wie das andere. Drei Waagen können drei verschiedene Ergebnisse hervorbringen und je nach Gemütslage oder Stand des Diätverlaufs Anlass für Hoffnung und Gram, Verzweiflung und Hochgefühl sein.
Schon vor langer Zeit hat das sich endlos wiederholende Spiel der Differenz auf der Waage professionelle Hilfsangebote hervorgebracht. Das 1963 in den USA gegründete Abnehmer-Unternehmen Weight Watchers ist das bekannteste seiner Art, nicht zuletzt |55| deshalb, weil es Glaube, Geld und Wissenschaft zu einem sonderbaren Cocktail mixt. Weight Watchers macht die Gewichtsreduktion demonstrativ zu einem öffentlichen Vorgang. Man tritt einer Gemeinde auf Zeit bei, und im öffentlichen Wiegen wird eine Schuld- und Einsichtsrhetorik, die den Bekenntnisformeln der Anonymen Alkoholiker nachempfunden ist, mit einer einigermaßen ausgeklügelten Ernährungspraxis kombiniert. Der Vorgang der Entrichtung von Gebühren ist in den Schuldprozess fest eingebunden, und nur ein positives Ergebnis, eine geradlinig nach unten verlaufende Kurve, die den Prozess der Abnahme veranschaulicht und bestätigt, vermag die Schmach zu verringern, unter Aufsicht und im Beisein anderer Fettleibiger gewogen zu werden. Wer sich bei den Weight Watchers wiegen lässt, klammert sich anfangs noch an hilflose Halteversuche der Manipulation. Wer mit schweren Schuhen kommt, hat für das nächste Mal noch ein paar Reserven. Irgendwann aber wird es warm im Jahr, und es ist kein Unterhemd mehr da, das noch abgeworfen werden könnte. Zu den ungleichen Waagen daheim ist nun noch eine weitere Waage hinzugekommen, die den Anspruch erhebt, das absolute, allein gültige Gewicht anzuzeigen. Geschlagen steigt man ab. Es muss auch so gehen, ohne Tricks. Und meistens geht es dann tatsächlich ein wenig bergab auf der Excel-Tabelle, und sei es auch nur
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