Mein schwacher Wille geschehe
Eigenschaften des Rings, der übermenschliche Kräfte verleiht oder einfach nur schön anzusehen ist. Frodo aber ist auserkoren, der zerstörerischen Verführung zu trotzen. Mit Gollum und Frodo, die einen großen Teil ihres abenteuerlichen Wegs als Feinde, aber auch als Gefährten gehen, die aufeinander angewiesen sind, hat J.R.R. Tolkien ein Figurenpaar geschaffen, das die Widersprüche moderner Gefühlslagen und Herausforderungen in sich vereint. Frodo und Gollum verkörpern die schwierige Existenz zwischen vielfältigen Verlockungen und dem Weg zum einfachen Glück. Wir möchten der tapfere Frodo sein, der wie Odysseus an den Mast gekettet scheint, doch in der Welt des Konsums ist uns Gollum immer auf der Spur. Er zischelt und flucht, er säuselt, schmeichelt und flüstert, er ist uns voraus und hinter uns her. Wir wollen ihn doch auch, den Schatz, dessen Bannspruch wie ein unsichtbarer Slogan über allen Warentempeln aufzuleuchten scheint: »Ein Ring sie zu knechten, sie alle zu finden. Ins Dunkle zu treiben, und ewig zu binden.«
Trotz aller den Kaufhandlungen innewohnenden subversiven und gegenläufigen Kräfte operieren die meisten Konsumkritiken und -theorien mit Stereotypen der Verführung, in der das Subjekt von der Vielfalt der Eindrücke zugleich angezogen, gefesselt und überwältigt wird.
Der Herr der Ringe
kann so als eine grandiose Erzählung über die Selbstbehauptungskämpfe des Ich gegen die dunklen Mächte gelesen werden. Wenn diese heute angreifen, schicken sie nicht mehr die abstoßenden Heere der Orks ins Feld. |92| Die Gefangennahme der Sinne vollzieht sich subtiler. Der harmlos anmutende Tausch von Geld gegen Ware wird seit jeher als Verschwörungstheorie beschrieben. Seitdem der Handel nicht mehr wundersamen Tauschritualen gleicht, sind ihnen zufolge fortwährend Agenten eines hermetischen Systems dabei, das Geschehen zu dirigieren und zu kontrollieren. Widerstand ist zwecklos, er wird nicht einmal erwogen. »Die Werbung sorgt dafür«, glaubt der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder, der mit
Neunundreißigneunzig
einen Roman über die Werbebranche geschrieben hat, in deren Diensten er selbst einmal stand, »dass wir unser Gefängnis lieben. Die einzige Hoffnung, die man uns lässt, ist die auf ein schöneres Auto.« Als Gefangene des Konsums träumen wir nicht einmal mehr von der Freiheit. Wir würden alles tun, um noch eine Weile im Bann des Warenzaubers bleiben zu dürfen.
Ein besonders markantes Beispiel für eine hermetische Theorie liefert der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber in seinem Buch
Consumed
!
, in dem er davon ausgeht, dass die Waren produzierende Wirtschaft alles daran setzt, die Konsumenten im Zustand infantiler Abhängigkeit zu halten. »Ich rede nicht im Passiv davon, dass ein Prozess der Infantilisierung im Gange ist. Ich behaupte vielmehr, dass viele unserer wichtigsten Wirtschafts-, Bildungs- und staatlichen Institutionen die Infantilisierung bewusst und absichtlich betreiben und wir deshalb den damit zusammenhängenden Praktiken der Privatisierung und des Branding ausgesetzt sind. Auf diese Weise wird nämlich ein System des Konsumkapitalismus aufrechterhalten, das nicht mehr von den herkömmlichen Marktkräften von Angebot und Nachfrage getragen wird.« 17
Die Mechanismen des Zwangs sind so fein dosiert, dass sie als himmlische Freiheit wahrgenommen werden. Barber sieht ein »infantilistisches Ethos« am Werk, in dessen Namen das Einfache dem Komplexen und Spaß und Freizeit der Disziplin vorgezogen |93| wird. Ist der Blick für die umfassende Verkindlichung einmal geschärft, lassen sich überall Indizien für eine totalitäre Degeneration finden. »Flughafenpolizisten teilen an den Kontrollstellen Lutscher aus, um zornige Fluggäste zu beschwichtigen; beim Fernsehen wird die Nachrichtenredaktion von führenden Leuten aus der Unterhaltungsbranche übernommen, in der Popkultur schwätzt man à la
Vanity Fair
von enfantrepreneurs, Kinderunternehmern, und das
New York Times Magazine
schwärmt davon, ›was Kids an Mode wollen, direkt aus dem Maul des Stutenfohlens‹, um sich anschließend für Stringtangas bei Siebenjährigen zu erwärmen; die Professionalisierung des Sports an den Highschools, die aus dem Basketballfeld der Teenager eine Rekrutierungsbasis für die NBA und aus dem Körper der Basketballspieler wandelnde Reklametafeln macht; erwachsene Literaturleser, die sich auf
Harry Potter
und
Der Herr der Ringe
stürzen (wenn
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