Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
Vom Netzwerk:
Willensschwäche als einen integralen Bestandteil emotionaler und sozialer Funktionstüchtigkeit zu erkennen. Gesunder Menschenverstand und Menschenkenntnis gehen überhaupt erst aus einem ständig in Bewegung gehaltenen Wechsel zwischen Fremd- und Selbstbeobachtung hervor. Das erklärt auch, warum die meisten Menschen nicht mit jemandem tauschen würden, der so etwas wie Willensschwäche an sich selbst noch nie erfahren hat. »Denn in der Möglichkeit der Willensschwäche«, so Martin Seel, »liegt ein wichtiges Stück Freiheit gegenüber uns selbst. Man denke nur an Figuren wie den Vulkanier Spock oder den Androiden Data aus
Star Trek,
denen die menschlichen Schwächen erst mühsam beigebracht werden müssen. Oder man denke an Ernst Lubitschs Film
Sein
oder Nichtsein
, dieser wohl bedeutendsten je erdachten Apologie der Willensschwäche. Hier ist es der
running gag
, dass eine hohe Nazi-Charge gegenüber einem vermeintlich Gleichgesinnten in jovialer Laune bemerkt: »Da ist immer etwas faul mit jemandem, der nicht trinkt, der nicht raucht und keinen Bissen Fleisch isst.« Um als Antwort die Frage zu erhalten: »Meinen Sie den Führer?« Lubitsch schickt in seinem Film die mittelmäßige polnische Schauspielertruppe mit all ihren Reibereien, Eitelkeiten und Unfähigkeiten in einen ungleichen Kampf gegen die mächtigen Nazis. Wo die Schwächen der Akteure offen zutage liegen, ist Einfallsreichtum gefragt. Sein oder Nichtsein, um das es im Film auf existenzielle Weise geht, entscheidet sich nicht an Fragen der Tugendhaftigkeit. Die Schauspieler erweisen sich als Meister einer spontan über sich hinauswachsenden Verschlagenheit. Als es darauf ankommt, verfügen sie über jene Tugenden, die sie bislang knapp oder kläglich verfehlt haben.
    Die Freiheit gegen sich selbst ist kein Kernbegriff eines emphatischen Konzepts. Man schreibt sie sich nicht auf wehende Fahnen oder in Grundgesetze. Das Lob der Laster und der Willensschwäche |89| ist völlig unheroisch. Bisweilen beruft man sich auf derlei Dinge wie in einem Akt der Notwehr. Es hilft beim Tun und begründet das Lassen. Beim nächsten Mal stellt sich die Frage nach linksherum oder geradeaus wieder neu. Meist stellt sie sich gar nicht.

|90| Durch den Konsum
    »Warum habe ich nach jahrelangem Schulbesuch immer noch keine klare Vorstellung davon, wie die Perforation auf dem Antwortcoupon oder der Rolle Toilettenpapier zustande kommt?«
    Nicholson Baker
    In den funkelnden Hallen, in denen Gesichter vorüberziehen, deren marmorner Ausdruck mit wasserfester Paste fixiert erscheint, erreicht aus den Tiefen des Unbewussten die Stimme Gollums unser Ohr, jenes glitschigen Ekelwesens aus
Der Herr der Ringe
, das in seiner Gier nicht unterscheiden kann ob Es spricht oder Ich. Unser gemächliches Schlendern kann kaum verbergen, dass auch wir ihn wollen, den Schatz. Wir spüren, dass er da ist, plötzlich können wir ihn ganz nah vor uns sehen. Grell leuchtend thront er auf den Sockeln der Begehrlichkeit oder dezent wartend setzt er in der Halbdistanz auf den Moment, in dem er in seiner minimalistischen Schönheit wahrgenommen wird. Wir gehen noch einmal vorbei, nehmen Kontakt auf, als käme es darauf an, ihn sich noch vor der ersten Berührung einzuverleiben. Nur ein kurzer Augenblick noch, dann wird es geschehen. Kampflos wird man sich ergeben und ihn sanft über den Finger gleiten lassen. Der Ring hängt federleicht an der Kette und zieht doch mit unermesslichen Kräften daran. Gollum, der einmal Ringträger war, ist der süßlichen Allmacht des so unscheinbaren Geschmeides verfallen. Er hat sich völlig aufgegeben und täte alles dafür, wieder in seinen Besitz zu gelangen. Die Jahre der unerfüllten Gier haben den anderen, Sméagol, der er einmal gewesen ist, ausgelöscht. Was übrig blieb, ist ein zerstörtes Wesen, das dem Ring seither begierig zu folgen versucht, wo immer er auch hingetragen werden mag. Man soll sich nicht täuschen. Dieses jämmerliche |91| Wesen ist willensstark, wenn es darum geht, den Ring in einem Augenblick der Unachtsamkeit an sich zu reißen. Wenn es für das Erreichen seines Ziels nötig ist, wird er töten. Wenn aber die Chance zum Zugriff verstrichen ist, ergibt er sich in Demut und Willfährigkeit. Nichts anderes erreicht mehr seine Sinne als die Aussicht darauf, den Ring wieder am Finger zu spüren.
    Sein tapferer Gegenspieler ist Frodo, der Ringträger aus dem Auenland, ein Novize des Triebverzichts. Auch er weiß um die wundersamen

Weitere Kostenlose Bücher