Mein schwacher Wille geschehe
zusätzlicher Rationalisierungen nimmt man gern auf sich. Wenn es darum geht, ihr Aufschieben und Unterlassen zu verteidigen oder ihr Genussziel zu erreichen, werden Willensschwache erfindungsreich.
Akrasia ist weder philosophische Spezialität noch pathologischer |86| Sonderfall. Die Entscheidung für das klar als unvernünftig Identifizierte erfolgt in solchen Fällen nicht in Leidenschaft und Rausch. Man tut es einfach, Schritt für Schritt, ruhig und gelassen. Selbst verkatert und einem gesteigerten Maß an Konzentrationsschwäche erinnert man sich am nächsten Tag noch gern an die charmante Unterhaltung vom Abend zuvor. Dem Trotzdem liegt kein Trotz zugrunde, sondern eine spontane Abwägung von Nutzen und Kosten. Es handelt sich meist nur um grobe Schätzungen, für eine genaue Rechnung bleibt im Alltag oft nicht die Zeit. Und man ist sich der jeweiligen Wertsphäre nicht wirklich sicher. »Es könnte sein«, schreibt Martin Seel, »dass unsere bisher besten Absichten trügerisch sind. Es könnte sein, dass sich gerade im Abfall von unseren besten Vorsätzen ein Durchbruch zu existentieller und ethischer Wahrheit meldet.«
Unschärfe und Ermessen nach Gefühl sind die schneidenden Waffen der Aufschieber und Vernachlässiger. Aus dem Durcheinander kann plötzlich ein Geistesblitz oder wenigstens etwas Abwechslung hervorgehen. Und so empfehlen Kathrin Passig und Sascha Lobo mit Blick auf den Markt der Arbeit und der Lebensstilvarianten, auf dem sich die Grenzen zwischen Selbstbestimmung, Zwang, Disziplin und Trödelei spürbar auflösen, öfter mal was Neues anzufangen. Wenn man nicht weiterkommt, so ihre Idee, hilft vielleicht liegenlassen. Es handelt sich dabei um ein Heureka-Prinzip jenseits der großen Entdeckungen. Um von hier nach da zu kommen, braucht man auch im schnöden Alltag bisweilen einen Mix aus Überraschung und Irritation. »Prokrastination war immer gut zu mir«, schreibt Kathrin Passig. »Mit dem Studium fing es an, denn kaum hörte man auf, mich wie zu Schulzeiten in enge, tägliche Hausaufgabendeadlines einzusperren, lag ich nur noch herum und las Krimis. Das brachte mir einen schönen Job in einer Krimibuchhandlung ein. Mein Freund P., den sein Studium so sehr langweilte, dass er überhaupt nicht mehr hinging, saß zu Hause herum und guckte Glücksrad, und |87| weil man nicht den ganzen Tag Glücksrad gucken kann, programmierte er nebenbei eine eigene Glücksrad-Version. Schon bald wurde er in einem Multimediaunternehmen angestellt und hängte sein Studium an den Haken. (...) Während ich mich um die Krimibuchhandlung, die Verlage, die Multimedia-Handlangerdienste und mein Studium hätte kümmern sollen, verbrachte ich viel Zeit in einem SM-Chat. Daraus entstand ein Sachbuch über SM, und weil ich eigentlich das Buch hätte schreiben sollen, gelang es mir, mein Studium abzuschließen.« 16
Es gibt, so legt Passig nahe, einen einträglichen Reigen des Aufschiebens. Das jahrelange Herumhängen in Internetforen kann sich irgendwann auszahlen. Muss es aber nicht. Die Launen des Prokrastinierens sind schwer zu durchschauen. »Das Einzige«, schreibt Passig verwundert, »was sich merkwürdigerweise nie für mich ausgezahlt hat, war eine ausgedehnte Tetrisperiode in meiner Zeit als studentische Hilfskraft.« Oder täuscht sich Passig hier? Tetris ist ja gewissermaßen eine Basisqualifikation für das Verhalten, etwas aus dem zu machen, was gerade herunterfällt. Es kommt wie es kommt, und man muss es in dem Ready-made seiner Biografie nach Möglichkeit so integrieren, dass man weiter darauf bauen kann. So, wie sie den Verlauf ihrer zufällig sich ergebenden Berufskarriere schildert, scheint sie ihr Leben bereits auf das Tetris-Spiel hin ausgerichtet zu haben.
Passig und Lobo favorisieren in ihrem schnell zum Bestseller avancierten Ratgeber für die Kunst des Aufschiebens eine Haltung des Abwartens, die das Gespür für den richtigen Augenblick nicht verliert. Prokrastinierer singen kein Loblied auf die Faulheit. Zum Faulsein sind sie zu ungeduldig. Außerdem tun sie viel zu viel. Das aber nur sehr ungeordnet. Was Passig und Lobo beschreiben, könnte man als kreative Hyperaktivität bezeichnen, die darauf setzt, dass irgendwann schon etwas Passendes dabei herausspringt. Fehler vermeiden ist ihre Sache nicht. Sie begegnen ihnen und sehen manchmal staunend dabei zu, was sich daraus ergibt.
|88| Man muss hier nicht die philosophische Diskussion über die Notwendigkeit von Fehlern anschließen, um
Weitere Kostenlose Bücher