Mein schwacher Wille geschehe
zahlreiche Möglichkeiten der Lasterregulierung. Aristoteles sagt: Es liegt bei uns. Und so sind Nordic Walking und Gewichtskontrolle denn auch keine Erfindungen der Neuzeit. »Während die von Natur aus Hässlichen niemand tadelt«, so Aristoteles, »tadeln wir diejenigen, die hässlich sind aufgrund eines Mangels an Training und durch Nachlässigkeit. Ebenso verhält es sich bei Schwäche und Gebrechlichkeit. Niemand wird einem Menschen Vorwürfe machen, der von Geburt oder durch Krankheit oder durch einen Schlag blind ist – man wird vielmehr Mitleid mit ihm haben. Dagegen wird jeder den tadeln, dessen Blindheit die |84| Folge von Trunkenheit oder einer anderen Art von Unmäßigkeit ist.« 14 Laster und Schwäche erweisen sich so als soziale Kategorien, für die es keinen grundsätzlichen Definitionsbedarf gibt. Ermittelt werden sie vielmehr mit Hilfe des gesunden Menschenverstands. Aristoteles ist streng, aber nicht unnachgiebig.
Von diesem sehr ausgeruhten Umgang mit den paradoxen Erscheinungsformen der Willensschwäche ist es allerdings noch ein weiter Weg zum Lob derselben, das Martin Seel ausspricht. 15 Er führt zum Beispiel über Thomas von Aquin, für den willensschwache Handlungen aus einer Art Gleichgültigkeit oder Lässigkeit hervorgehen.
Incontinentia
ist so verstanden eine Unbeständigkeit, die den Handelnden nur vorübergehend aus dem Lot gebracht hat. Die ursprüngliche Intention wird nicht, wie bei Aristoteles, im Zustand der Bewusstlosigkeit, sondern eher beiläufig preisgegeben. Prokrastinierer, Unbeherrschte und Disziplinverächter trachten nicht danach, den ordnenden Rahmen zu verlassen, sondern nehmen es mit der ihnen verordneten Vernunft eher locker. Regelverletzung und Grenzüberschreitung sind kein starr ins Auge gefasstes Ziel ihres Tuns, sie können sich aber einstellen. Es war nicht so gewollt und ist doch so gekommen. Dass es ja so kommen musste, wissen immer nur die anderen. Die Willensschwachen drücken, wenn überhaupt, kurzes Bedauern bezüglich ihrer Verstöße aus. Die vor einigen Jahren als Kampf um Deutungshoheit entbrannte Diskussion zwischen Philosophen und Hirnforschern über Willensfreiheit und Determination führt hier nicht weiter. Phänomene der Willensschwäche lassen sich ja gerade auch dort beobachten, wo der Wille stark und gefestigt ist. Nachlässigkeit und Mangel an Selbstdisziplin gehen in den meisten Fällen denn auch nicht aus Charakterschwäche, sondern einem allzu großen Vertrauen in die eigenen Bewältigungsstrategien hervor. Das wird schon werden. Und die Entscheidung über linksherum oder geradeaus markiert in den großen Schaltplänen keine entscheidende Schnittstelle.
|85| Im Rennen um die plausible Erklärung, warum man wider besseres Wissen dieses lässt, um jenes zu tun, greift Martin Seel zur Zigarette. »Es gehört zum Begriff des Handelns, wirksame Gründe zu haben, dieses und nicht jenes zu tun. Jemand tut absichtlich dieses, weil er glaubt, dass es auf die eine oder andere Weise angesagt ist. Der Willensschwache hat solche Gründe. Er greift zur Zigarette, weil das ihm, wie er glaubt, jetzt gut tun wird. Freilich hat er daneben andere Gründe. Er sollte nicht zur Zigarette greifen, weil es ihm, wie er ebenfalls glaubt, auf Dauer nicht bekommen und er es darum morgen bereuen wird. Er weiß auch, dass diese anderen Gründe die besseren sind.« Sei’s drum, sagt er sich dann – oder christlich: Hol’s der Teufel.
Zum Phänomen der Willensschwäche gehört folglich auch eine Ökonomie der Befindlichkeit. Ich weiß, dass ich jetzt besser nach Hause gehen sollte, weil morgen ein schwerer Arbeitstag bevorsteht. Ich gehe aber noch nicht, weil die Gesellschaft der Kollegin gerade so anregend ist. (Oder auch nur: Endlich mal wieder eine, die dir zuhört oder zumindest so tut.) Okay, vielleicht sollte ich bei der nächsten Runde ein Glas Wasser bestellen. Das hilft vielleicht sogar, das Gespräch mit der hübschen Kollegin zu verlängern. Das nächste Glas Wein könnte die momentane Unbeschwertheit in puren Blödsinn umschlagen lassen, den man den Rest des Abends mit einiger Gewissheit von sich geben wird. Oder sollte man nicht doch besser bald gehen? Der Letzte einer sich auflösenden Runde sieht nicht gerade vorteilhaft aus und er fühlt sich noch schlechter. Selbst im Moment des Sich-gehen-Lassens tritt so etwas wie Güterabwägung auf den Plan. Man würde ja auf der Stelle gehen, wenn es draußen nicht kalt und nass wäre. Die Anstrengung
Weitere Kostenlose Bücher