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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
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Es kann ein wenig helfen, auf seine Flughöhe zu achten. »Der Absturz ist um so schrecklicher«, so Jean-Claude Kaufmann, »je höher der Traum angesiedelt ist, an den man schließlich glaubt. Man muss auch in der Lage sein, Traum und Realität miteinander zu verbinden, die von der Gesellschaft bereitgestellten Informationen zu beachten und nachzudenken.«
    Aber kann man nicht doch etwas tun? Eine ganz andere Verbindung von Traum und Realität betreiben zum Beispiel der Schriftsteller Ingo Niermann und seine Partner, die auf ihre Weise das Leben über den Verhältnissen und unter den Möglichkeiten ausloten. Man kann ihr Projekt als ein raffiniertes Schelmenstück bezeichnen oder als Versuch zu einem experimentellen Unternehmertum betrachten. In Sachsen-Anhalt, in Streetz, einem Dorf der Gemeinde Dessau-Rosslau, soll eine Pyramide als riesige Grabstätte entstehen. Nicht gleich ganz groß und auf einmal, sondern Grab für Grab oder auch nur Gedenkstein für Gedenkstein. Ein Monument mit Wachstumspotenzial. Jeder soll mitmachen dürfen bei der künftigen Weihestätte der Egalität. Die Pyramide »steht Angehörigen aller Nationalitäten und Religionen als ebenso monumentale wie preiswerte Grabstätte zur Verfügung«, heißt es auf der Internetseite thegreatpyramid.org. »Wer nicht sein Urnengrab dort finden kann oder will, kann einen Erinnerungsstein für sich setzen lassen. Jedem steht es frei, seinen Stein zu gestalten, sei es mit Farben, Bildern oder als Relief. Stein um Stein wächst die Große Pyramide und kann das größte Bauwerk der menschlichen Kultur werden.«
    Kein Kaufzwang, keine Mitgliedschaft bei einer Sekte. Man soll nichts müssen. Ingo Niermann sieht auch nicht aus wie einer, der |117| windige Haustürgeschäfte fürs Internetzeitalter anbietet. Wenn man ihn fragt, wie alles begann, wirkt er ein wenig verlegen, als gehe es um Ausführungen zu seiner Diplomarbeit. Das Vorhaben ist aber etwas größer dimensioniert. Die Idee war ihm in China gekommen. Bei einem viermonatigen Aufenthalt in Peking habe er nach vielen Reisen erstmals das Gefühl gehabt, Zeuge einer die gesamte Welt prägenden Umwälzung zu sein. In seinem Buch
Umbauland
23 hat er später eine Sammlung von Reformexperimenten vorgestellt, Versuchen, die gesellschaftliche Lethargie zu durchbrechen: »Zehn deutsche Visionen«. Die Pyramide, die in einem Fachblatt für Friedhofskultur als »Las Vegas des Todes« bezeichnet wurde, war eines der Projekte von
Umbauland
, mit denen der geistige Reformstau behoben werden sollte.
    Niermann ist weder nekrophil noch ein Anhänger von Sepulkralkultur. Schon eher faszinieren ihn logistische Herausforderungen und intellektuelle Akrobatik. Es ist an alles gedacht: Die Pyramide wird eine permanente Baustelle sein, ein unabschließbares Projekt, dessen Gestalt sich durch ständige Überformung verändert. Dessau-Rosslau erwies sich deshalb als besonders geeignet, weil es große bebaubare Flächen hat, dazu gute Verkehrsanbindungen und mit der Elbe über eine transportfähige Wasserstraße verfügt. »Für den Beton«, sagt Niermann und kokettiert dann doch ein wenig mit der Gizeh-Vorstellung.
    Das Niermannsche Umbauprojekt existiert längst nicht mehr nur in Buchform und im Internet. Es gibt kulturelle Realitätsverstärker. Der Star-Architekt Rem Koolhaas hat den Jury-Vorsitz für einen Architektenentwurf übernommen, zu dessen Teilnehmern unter anderen der chinesische Documenta-Künstler Ai Weiwei und das Atelier Bow Wow (Tokio) gehören. Die Bundeskulturstiftung in Halle ist sachlicher vorgegangen. Sie hat das Projekt mit rund 90 000 Euro im Rahmen des Projekts »Arbeit in Zukunft« gefördert. Was genau, das weiß sie selbst nicht. Anfangs war die Rede von einer Simulation, aber das gefiel dem eigens gegründeten |118| Förderverein um Niermann nicht. »Simulation legt nahe, wir würden nur so tun als ob. Wir wollen die Pyramide aber wirklich.« Später hat man sich mit der Bundeskulturstiftung auf den Begriff Intervention geeinigt.
    Zweifel am Realitätsgehalt der Intervention gibt es dennoch. In der Gemeinde Dessau-Rosslau herrscht inzwischen gespannte Unruhe. Nicht wenige fühlen sich auf den Arm genommen. Sie fürchten, dass sich ein paar Internet-Spinner einen groben Scherz erlauben. Niermann ahnt, dass er damit wohl leben muss, aber es sei ihm bitterer Ernst, beteuert er und vergleicht das Vorhaben mit Roosevelts New Deal, in dem nicht zuletzt gigantische Bauwerke im Dienst einer politischen

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