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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
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verloren oder einfach liegen gelassen. Den Rest besorgt sein aufmüpfiger Diener Sachar, der ihn bestiehlt, ohne dass Oblomow jemals misstrauisch würde. Zum Ergreifen von Konsequenzen fehlen ihm sowohl der Sinn für Verdächtigungen als auch Entschlusskraft. Oblomow erweist sich als ganz und gar unfähig, auf die Verhältnisse zu reagieren. Den Untergang seiner Klasse, den die zeitgenössische Rezeption im Auge hatte, hat der oblomowsche Charaktertyp in den heutigen Konsumwelten jedoch unbeschadet überlebt.
    Das inzwischen auch vom Fernsehen wahrgenommene Interesse an Menschen in Zahlungsschwierigkeiten deutet ferner darauf hin, dass es immer mehr Leuten schwer fällt, sich mit und in den Verhältnissen zurechtzufinden. Der Normalfall ist auf dem Rückzug. Peter Zwegats Fallbeispiele mobilisieren nicht nur Abgrenzungsenergien, sondern auch Ängste. Dem Unverständnis |110| darüber, wie jemand sich arglos in eine aussichtslose finanzielle Lage hat bringen können, folgt das bange Gefühl eigener Absturzgefährdungen. Die Frage, wie es nur so weit kommen konnte, ist stets eine rhetorische. Es gibt im Grunde kein gegenwärtiges Bewusstsein vom Leben über den Verhältnissen. Man ergründet es immer erst nach Eintreten des Ernstfalls. Der persönliche Geldstil wird zum entscheidenden Indikator der Lebensführung, aber zugleich ist unter den Bedingungen rasch wechselnder Einkommensverhältnisse der Sinn für das richtige Maß verloren gegangen. Hohe Kante oder knietief im Dispo? Aktie, Sparbuch oder Konsumkredit? Sag mir, wie Du es hältst mit dem Geld und ich sag Dir, wer Du bist. Es gibt keinen arglosen Umgang mit dem Konto, und mit dem gesteigerten Gebrauch der Geheimnummer setzt eine rasende Deflation der Gewissheiten ein. Beim Blick auf den Kontoauszug kann dem Ich ganz anders werden. Das gute Gefühl, genau zu wissen, wo man steht, ist flüchtig, und auf der sozialen Stufenleiter herrscht reger Betrieb in beide Richtungen.
    In den Sozialwissenschaften ist immer weniger vom nivellierten Mittelstand die Rede, womit der Soziologe Helmut Schelsky in den Anfangsjahren der Bundesrepublik die lange Phase des Aufstiegs und der sicheren sozialen Lagen charakterisierte. Stattdessen hat sich nunmehr die Annahme durchgesetzt, dass es fast jeden treffen kann. Zwar erhält der einzelne durch die Dynamik globalisierter Märkte endlos viele Chancen, aber nicht alle bekommen eine Lizenz zum Mitspielen bis zum Schluss. Das Backen kleinerer Brötchen, der enger geschnallte Gürtel sind als Spruchweisheiten weiter in Gebrauch, aber sie stellen kaum noch eine soziale Option dar. Die Bedingungen des Weitermachens sind für die Zeit nach dem Absturz bis auf weiteres ungeklärt. War das Leben über den Verhältnissen eine Metapher zur Beschreibung einer unvorsichtigen Haushaltsführung, so sind die Verhältnisse inzwischen selbst unklar geworden.
    In der Redewendung vom Leben über den Verhältnissen klingt |111| eine Kritik an der Hybris an, mit der man sich über die ökonomischen Notwendigkeiten hinweggesetzt hat. Es gilt als unverantwortlich und dumm, über einen längeren Zeitraum mehr auszugeben als man hat. Der
homo oeconomicus
meidet den Zustand der Entfesselung. Kein Pump, keine Sorgen. Doch obwohl die Folgen von Zuwiderhandlungen relativ leicht einzuschätzen sind, scheint es immer wieder zahlreiche Gründe dafür zu geben, die eher lockeren Formen des Wirtschaftens für eine Art Weisheit der Vielen zu halten. Machen es nicht alle so? Statistisch betrachtet hat die Zahl überschuldeter privater Haushalte in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. »Exakte Angaben, wie viele Haushalte überschuldet sind«, schreibt Jürgen Angele vom Statistischen Bundesamt auf der Internetseite www.destatis.de, »gibt es nicht. Je nach Definition, aber auch nach Interessenlage, schwanken die Expertisen zur Zahl der absoluten oder relativ überschuldeten Haushalte zwischen knapp unter drei Millionen bis weit über drei Millionen.«
    Genauere Angaben liefern die Gerichte, die sich mit den so genannten Privatinsolvenzen zu befassen haben. »Legt man die Expertise zugrunde«, so Jürgen Angele, »die mit knapp unter drei Millionen die niedrigste Zahl an überschuldeten Haushalten ermittelt hat, so würde sich – bei einer durchschnittlichen Schuldenlast von 22 000 Euro – das gesamte Schuldenvolumen überschuldeter Haushalte (ohne Selbstständige und Hypothekenschuldner) auf schätzungsweise 65 bis 70 Milliarden Euro belaufen. Erkenntnisse

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