Mein schwacher Wille geschehe
Was immer Übersetzerkongresse dem gesprochenen Wort noch abringen mögen: Der Satz »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« ging in die Geschichte ein und verwies darauf, dass es mitunter mehr als nur eine kleine Untugend ist, nicht rechtzeitig da zu sein.
In der zum Sprichwort verdichteten Version sind zwei auffällige Veränderungen am ursprünglich Gesagten vorgenommen worden. Die Schwierigkeiten, die Gorbatschow wohl aus diplomatischen Gründen nicht näher definieren mochte, sind zur Strafe zugespitzt worden. Und das philosophisch anmutende Diktum, dem zufolge man sich dem Leben zu stellen habe, wird zur Kennzeichnung einer Verfehlung des Pünktlichkeitsgebots. |122| Während in der ursprünglichen Version Schwierigkeiten auf das handelnde Subjekt zukommen, wird das Leben in der Sprichwortfassung paradoxerweise selbst zum Akteur. Die Lebenszeit, die so oder so vergeht, wird zur strafenden Instanz. Die Strafe droht nicht, sie ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Dem übermächtigen Akteur – der ablaufenden Zeit – kann man nicht ausweichen.
Lässt man den politischen Kontext, in dem Gorbatschow seine berühmten Sätze gesagt hat, einmal außer acht, dann fällt die allgemeine Verpflichtung zur Pünktlichkeit auf, die wie eine nicht zu hinterfragende Autorität in Erscheinung tritt. Sie ist eine Voraussetzung für den funktionierenden Alltag. Wer zu spät kommt, den erwartet nicht irgendeine Strafe. Er wird vielmehr mit einer nicht näher bestimmten Instanz konfrontiert. Das Leben wird durch seine Unbestimmtheit zur unabwendbaren Bedrohung. Es gibt niemanden, der das Strafmaß aufheben oder verändern könnte. Es gibt nicht einmal jemanden, der es ausspricht. Die Strafe steht im Raum, und sie ist umso schlimmer, weil sie von niemandem verhängt worden ist. Der Gorbatschow zugeschriebene Satz beansprucht Absolutheit und suggeriert Unerbittlichkeit. Einspruch wird nicht abgelehnt, er ist gar nicht erst vorgesehen. Das Leben verzeiht nichts. Die Strafe für das Zuspätkommen ist die Höchststrafe, weil sie kontingent ist. Wenn Gnade gewährt wird, dann allenfalls durch zufällige Ignoranz.
Die paradoxe Rolle des Lebens als handelndem Subjekt verweist auf den metaphorischen Charakter des Satzes und enttarnt ihn als Rhetorik. Nichts kann schlimmer sein, so die naheliegende Dechiffrierung der Redefigur, als dass sich das Leben gegen einen richtet. Die radikale Verkürzung macht sie erst zu dem Merksatz, der seither in aller Munde ist. Die Schuld muss groß sein, wenn die Strafe derart unfassbar erscheint. Die stark aufgeladene Bedeutung des Verhaltens zur und in der Zeit deutet auf eine anthropologische Dimension hin. Es gibt Situationen, in denen |123| das Gefühl für den richtigen Augenblick wichtiger sein kann als das rechtzeitige Erscheinen zu einer Verabredung. Und so wurde in den Urszenen der Menschheit das Zuspätkommen nicht vom Leben, sondern mit dem Tod bestraft. Überleben konnte nur, wer den lauernden Gefahren zu trotzen wusste oder schnell genug vor ihnen davonlaufen konnte. Tagträumen war lebensgefährlich. Zum Verhaltensrepertoire gehörte Spurenlesen ebenso wie die Kunst der Verstellung. Es war nicht Pünktlichkeit, sondern Wachsamkeit gefragt. Jenseits der Messbarkeit der Zeit kam es darauf an, da zu sein. So gesehen kann in modernen Kontexten fehlende Wachsamkeit als eine Art zivilisatorisches Defizit aufgefasst werden. Anwesenheit bedeutet nicht zwangsläufig Gegenwärtigkeit. Das moderne Subjekt übt sich in Multitasking und leidet doch an der Zerstreutheit. Das Gebot der Pünktlichkeit hält so gesehen eine unterschwellige Verbindung zu den existenziellen Gefahren, die es zu meistern gilt, auch wenn sie sich im urbanen Raum deutlich verringert haben und bisweilen schwerer auszumachen sind. Die Feindschaftsverhältnisse sind unscharf geworden. Man übt sich in Schlagfertigkeit, gibt sich alert und legt Wert darauf, zur richtigen Zeit an Ort und Stelle zu sein. Um Leben und Tod geht es dabei meist nicht. Die Verpflichtung auf Pünktlichkeit ist eine ins allgemeine Kulturgut eingesickerte Verhaltensnorm eines vormals akuten Überlebenswillens. Man hält sich dran, doch wenn man dagegen verstößt, meldet sich allenfalls ein schlechtes Gewissen.
Hinreichend ausgearbeitet findet sich das Gefühl undefinierter Bedrohung und eine atmosphärisch stets anwesende Schuld, die aus dem individuellen Umgang mit der Zeit herrührt, in den Texten Franz Kafkas. Die strafende Instanz lauert
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