Mein schwacher Wille geschehe
überall, ohne je in Erscheinung zu treten. Das Ausbleiben der Strafe ist eines der markantesten Merkmale der Literatur Kafkas. Die Macht des Schlosses und die disziplinierende Gewalt des Urteils erscheinen so monströs, weil auf den Vollzug meist verzichtet wird. Der Prozess |124| endet nicht. In diesem Sinn sind viele von Kafkas Protagonisten Zuspätkommer. Der Druck der Zeit lastet auf ihnen wie eine nicht abzuschüttelnde Bürde. Ihr Überlebenswille ist durchaus ausgeprägt, aber sie reagieren fast immer unangemessen auf ihre Umwelt. Wo sie es leicht nehmen könnten, erleben sie ihre Situation als Drama, und wo es eng wird, verlieren sie sich in Weitschweifigkeit. Vielleicht sind sie, wie Günther Anders es formuliert hat, Menschen ohne Welt. Ihre Schwierigkeiten mit der Zeit jedenfalls treten immer wieder deutlich zutage. Trotz aller Zurückhaltung und Vornehmheit fehlt ihren Kommunikationsformen jegliches Maß. Für die Verspätung der kafkaschen Helden gibt es daher oft keine Möglichkeit der Entschuldigung. Ihr Zuspätkommen ist existenzieller Natur. Selbst wenn das Versäumnis folgenlos bleibt, ist danach nichts mehr wie es vorher war. Der beiläufige Verstoß gegen eine gesellschaftliche Konvention mag ins Leere gehen. Zurück bleibt jedoch die Ahnung einer unauflösbaren Fatalität. Kafkas Figuren scheitern nicht an der Realität. Es ist das Scheitern selbst, das ihnen oft nicht möglich ist, und ihnen fehlt jegliche Aussicht auf die zweite Chance. Sisyphos rollt hier nichts mehr. Kafkas Figuren wird bisweilen ganz und gar die Möglichkeit vorenthalten, sich ihres Schicksals anzunehmen.
Während Gregor Samsa am Morgen aus dem Bett gar nicht erst hochkommt, also streng genommen nicht einmal zu spät kommt, verspürt der Held der Parabel »Gibs auf« das Verrinnen der Zeit auf der Straße. »Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof.« Die leere Straße deutet jene umfassende Instanzlosigkeit an, die im Gorbatschow-Sprichwort das Leben einnimmt. Alles ist möglich, aber nichts an diesem Zustand kann als individuelle Freiheit begriffen werden. Die Zeiterfahrung des Chronos, das gleichmäßige Vergehen von Zeit, könnte Halt geben, aber gerade sie droht zu entgleiten. »Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, |125| als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken und diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte atemlos nach dem Weg.«
Kafkas Held zweifelt keine Sekunde daran, dass die Turmuhr die richtige Zeit anzeigt und seine individuelle Zeitmessung fehlgeschlagen ist. Er ist zu spät, so hat es die unerschütterliche Autorität, die Turmuhr, angezeigt. Es scheint müßig, danach zu fragen, warum er seiner Uhr nicht traut. Sein Zeitgefühl ist fundamental durcheinandergeraten. Neben der zeitlichen ist auch die räumliche Orientierung verloren gegangen und er bedarf der Hilfe anderer, wissend, dass diese kaum noch zu haben ist. Gibs auf, gibs auf, sagt der Schutzmann am Ende und wendet sich ab wie einer, der mit seinem Lachen allein sein will. Auch in Kafkas Parabel gibt es keine andere Strafe als die der Zurückweisung an das Leben selbst. Gibs auf heißt, es gibt keine Teleologie, nichts ist zu erwarten. Dass gelacht wird, bietet keine Entlastung. Selbst der Sinn fürs Dramatische scheint für immer verloren. Dass sich einer an die Alltagstugenden zu halten versucht, ist bereits ein Ausdruck von Lächerlichkeit.
Kafkas Parabel ist eine tiefschwarze Variation über das Zuspätkommen. Rechtzeitig da zu sein, verheißt nur noch bedingt Anerkennung. Pünktlichkeit mag als Tugend gelten, aber sie fällt nicht weiter ins Gewicht. Sie ist schmückende Geste wie der angemessene Gruß zur Tageszeit. Wer pünktlich ist, hat keinen Startvorteil außer dem, den negativen Konnotationen der Unpünktlichkeit zu entgehen. Bloß pünktlich zu sein, kann gar den Ruf einer gewissen Biederkeit und Einfallslosigkeit einbringen. Fünf Minuten vor der Zeit ist uncool. Trotz alledem scheinen die Folgen der kleinen Verstöße gegen die zeitliche Ordnung weiterhin eine wichtige Rolle im Unbewussten zu spielen. Seit der Kindheit gilt unhinterfragt, danach zu streben oder sich zumindest nach Kräften |126| dran zu halten. Wer pünktlich ist, will nicht auffallen. Seit der Kindheit weiß
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