Mein schwacher Wille geschehe
Art in eine klinische Definition zu fassen.
Die Forschungen zum Glücksspiel, die sich im Zuge ihrer Entwicklung vergleichbaren klinischen Standards der Suchtforschung annäherten, folgten so gesehen einem exemplarischen Verlauf. Es braucht seine Zeit, ehe bestimmte Zusammenhänge erkannt werden. Die Diagnostik sozialer Gefahren hat die Stationen der institutionellen Anerkennung zu durchlaufen, wobei spektakuläre Thesen durchaus dazu beitragen, die übliche Trägheit des bürokratischen Betriebs durchzuschütteln. Geldspielautomaten, so Meyers aufrüttelnde These, können regelmäßiges Spielen und zwanghaftes Spielverhalten hervorrufen und in die |164| Abhängigkeit treiben. Im speziellen Fall des Automatenspiels waren es vor allem technische Neuerungen, die bekannten Glücksspielarten beschleunigte Spielabläufe und damit potenzierte psychische Einflüsse verliehen. Meyers mit amerikanischen Forschungsergebnissen abgeglichene Arbeit fand in den folgenden Jahren trotz der Abwiegelungsbemühungen der betroffenen Automatenindustrie weitgehend Anerkennung. Das Glücksspiel und seine unterschiedlichen Spielangebote wurde von den entsprechenden medizinischen und psychotherapeutischen Instanzen als eine Suchtform gewertet, die nicht, wie es der klassischen Abhängigkeitsdefinition entspricht, auf stofflichen Substanzen oder Drogen basiert. In der Folge wurden bald weitere Suchtphänomene jenseits toxischer Wirkungsweisen wie Arbeiten, Kaufen, Sammeln, Fernseh- oder Sexkonsum identifiziert, so dass Kritiker von einer Inflation der Süchte sprachen. Im Haushalt des Ichs konnte plötzlich alles als ein Zuviel des Guten auftreten. Die Verwendung eines Begriffs wie Willensschwäche bringt in diesem Zusammenhang auch die Skepsis zum Ausdruck, das Kategoriensystem der Süchte beliebig zu erweitern. Also stellten sich die bekannten Fragen. Was bringt einen dazu, immer wieder zu tun, was einen nachhaltig aus der Bahn wirft? Was macht es Spielern so schwer, ihr schädliches Tagwerk einfach abzustellen? Wo verläuft die Grenze zwischen der Fähigkeit, ruhig Blut zu bewahren, Kontrolllust und Fremdsteuerung? Was geschieht, wenn das autonome Subjekt, das sich eben noch souverän in der Multioptionsgesellschaft bewegt hat, plötzlich nicht mehr Herr im eigenen Haus ist?
Als klar abgrenzbares Phänomen stellt das pathologische Spielen die markanteste und auch am besten erforschte Form einer nichtstofflichen Abhängigkeit dar. Es ist zugleich der blinde Fleck einer allgemein nobilitierten Kulturgeschichte des Spiels, die zu den philosophischen Gemeinplätzen gehört. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, lautet dazu Schillers fast schon folkloristischer |165| Merksatz aus den
Briefen zur ästhetischen Erziehung
des Menschen.
Und es klingt trivial, im Zusammenhang mit problematischen Spielverhalten auf die kulturellen Wurzeln der Gemein-schaft im Spiel und den
Homo ludens
, dem der Kulturtheoretiker Johan Huizinga eine kulturanthropologische Studie gewidmet hat, zu verweisen.
Der französische Spieltheoretiker Roger Caillois ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem er nicht nur konstatierte, dass in allen Gesellschaften gespielt werde. 35 Seiner Theorie zufolge geht das Spiel der Gesellschaft voraus. Es gibt Gesellschaft nur, weil gespielt wird. Technischer Fortschritt ist nur durch spielerisch anmutende Experimente möglich, und zum erfolgreichen Wirtschaften bedarf es wettkämpferischer Anstrengung. Darüber hinaus ist jedoch der Zufall ein wichtiges Korrektiv, weil nicht alles in vorhersehbare Prozesse zu überführen ist. Caillois verweist auch auf das zerstörerische Potenzial, das im Spiel schlummert. Der Untergang ganzer Kulturen lässt sich mit diesem Ansatz erklären. Die vier Prinzipien des Spiels, die Caillois unterscheidet – Wettkampf und Zufall sowie Maske und Rausch – bestimmen als Rahmenkategorien in unterschiedlichen Kombinationen zwar die Lebens- und Zukunftsfähigkeit einer gesellschaftlichen Formation, können ihr aber auch zum Verhängnis werden. Es kommt auf die ausgewogene Balance an. Neigt eine Gesellschaft beispielsweise zu der Kombination von Verstellungsspielen und Rauschgenuss, ist sie in hohem Maß gefährdet. Dabei geht es Caillois nicht um das Verhängnis Einzelner. In den großen kulturtheoretischen Entwürfen wird individuelles Fehlverhalten in der Regel unter den üblichen Betriebsausgaben verbucht.
Wie die Geldbewegungen der internationalen Finanzmärkte werden auch die
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