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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
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den Versuch, das Lassen nicht als Sonderfall des menschlichen Handelns, sondern als eine elementare Qualität zu beschreiben. »Die Fähigkeit, Alternativen bewusst auszuschlagen oder stillschweigend außen vor zu lassen«, schreibt Seel, »ist eine wesentliche Bedingung der Freiheit des Handelns. Alles, was wir aus freien Stücken tun, könnten wir auch bleiben lassen – aber wir lassen alles andere bleiben, weil wir gerade diesen Kurs einschlagen wollen. Der Freie lässt |157| viele seiner Möglichkeiten absichtlich aus. Auf der Landkarte unserer Handlungen sind zahlreiche Linien sichtbar, die wir im Handeln nicht gezogen haben.« Seel unterscheidet in seiner Phänomenologie die Energien freisetzenden Kräfte des Auslassens von den Bindekräften, die Unterlassungen implizieren. »Unterlassungen sind Handlungen«, so Seel, »die uns – in Lob und Tadel, durch Belohnung oder Strafe – zugerechnet werden können.« Während Tun und Lassen dem Sprachgebrauch nach der Freiheit des Einzelnen zugehört, haben Unterlassungen auch eine juristische Bedeutung erlangt.
    Wenn man das Lassen nicht vom Tun, sondern das Tun vom Lassen her denkt, öffnet man sich den Ambivalenzen von Verhaltensweisen, die auch im Umgang mit unseren Schwächen von Interesse sind. Es gibt keinen Baukasten von Regeln, den man nur einzusetzen braucht, um gesund, behütet und erfolgreich durchs Leben zu kommen. Wer das ABC des Tuns nach Kräften beherrscht, verliert das Gespür für die Notwendigkeit des Lassens. In diesem Sinne tragen die Freuden der Passivität zur Erholung von den Wonnen einer aktiveren Verausgabung bei. Zustände wie das Dösen, Phantasieren, Sich-ausschlafen, Faulenzen oder sonstiges Sich-treiben-lassen sind Verhaltensweisen, die meist den schlechten Angewohnheiten zugerechnet werden und die als Willensschwäche in bestimmten Situationen mit viel Aufwand bekämpft werden. Man sollte jedoch seine Aufmerksamkeit darauf lenken, dass nur selten von einem einseitigen Leiden an solcher Passivität die Rede sein kann. »Das Erreichen und Erhalten dieser Zustände«, schreibt Seel, »verlangt seinerseits bestimmte und manchmal durchaus komplexe Tätigkeiten.« Man muss sich die Kunst, sich gehen zu lassen, sehr bewusst aneignen. Ähnliches meint auch der schöne Spruch: Hätte ich die Kraft, nichts zu tun, täte ich nichts. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass ein und dieselbe Tätigkeit völlig gegensätzlich bewertet werden kann. Für den einen ist Joggen der Inbegriff eines aktiven Lebens und der |158| Selbstsorge, für den anderen, so Seel, »ist es ein Wahrzeichen eines passiven Seins«.
    Unterschiedliche Lesarten gibt es auch für das Bleibenlassen und das Einlassen. Die Entscheidung, etwas nicht zu tun, ermöglicht das Ergreifen von Alternativen. Sie können insbesondere dann Bedeutung erlangen, wenn man bereits heillos in Kämpfe um die Gestaltung der richtigen Lebensweise verstrickt ist. Wo Gewichtskontrolle, die Selbstverpflichtung zu regelmäßiger Bewegung und die Achtsamkeit vor gefährlichen, wenn auch genüsslichen Körpergiften einen in Beschlag nimmt, kann das Bleibenlassen einen unschätzbaren Zugewinn an Freiheit offenbaren. »Ich verzichte auf das Streben nach idealer Fitness«, so Seel, »auf die Kontrolle über das Leben meiner Geliebten, auf den Kampf gegen die Mühlen der Bürokratie, auf meine Reputation als politisch korrekter Bürger, auf das Stillhalten gegenüber einer repressiven Macht. Dieser Verzicht ist mit dem Ergreifen von Möglichkeiten verbunden, die ich bisher nicht entfalten konnte.« Gerade ein
Michael Kohlhaas
, der beharrlich und unerbittlich auf seine ihm verwehrten Rechte pocht, macht sich zu einem unfreien Menschen, nachdem über das erlittene Unrecht des Einzelfalls hinaus das heilige Prinzip in den Mittelpunkt rückt. Andererseits sind Enthaltung und Bleibenlassen kein Vorschlag für praktische Lebensführung. Dort, wo man es unterlässt, sein Leben zu führen wie Herman Melvilles
Bartleby
in der gleichnamigen Erzählung, der mit der Haltung des »lieber nicht« Abstand zum Leben hält, bleiben trotz der vornehmen Enthaltsamkeit am Ende keine Freiräume übrig. Für Martin Seel ist die Grundbedeutung alles Lassens ein Sich-einlassen-auf. »Wer sich auf etwas einlässt, lässt etwas zu; er lässt zu, nicht mit Bestimmtheit zu wissen, was ihm im Verlauf seines Handelns geschehen wird.« Nur wer sich einlässt, hält sich offen für überraschende Reaktionen im Moment schwindender

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