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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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willst das Spiel unbedingt in der Live-Übertragung sehen. Soviel Nervenkitzel muss sein. Es ist, als könnte man das Spiel beeinflussen, wenn man live dabei ist. Ein Wurf von der Grundlinie, der sich unmittelbar auf deinem Konto niederschlägt. Die Mavericks müssen einfach punkten. Mit den 2 000 Euro Gewinn kommst du dann erst einmal hin, und ein Geburtstagsgeschenk für Siggi ist auch noch drin, kein Problem.«
    Werner B. reflektiert seine Situation, aber in der Abwärtsspirale, in der er sich befindet, gibt es keine Halteplattformen. Seine sozialen Beziehungen sind ihm nicht gleichgültig, aber er verkennt die Dimension seiner Verstrickung. Es ist mitunter die Intelligenz eines Spielers, die ihm ein Schnippchen schlägt. Es finden sich immer Gründe und Wege, es doch noch einmal zu versuchen. Erfindungsreichtum wird in solchen Momenten geradezu angestachelt. Das Wissen über das eigene Spielverhalten oder psychologische und medizinische Erkenntnisse verhelfen nicht zu einem realistischen Umgang mit dem, was kommt. Längere Zeiten der Abstinenz täuschen darüber hinweg, dass der Drang, es wieder zu tun, noch virulent sein kann. Der Spieler |162| meint dann, es geschafft zu haben. Situationen, in denen er der Verlockung widerstanden hat, erlebt er bisweilen sogar als Triumph der Unterlassung. Die Tage der Abstinenz, die Erfahrung des Durchhaltens, verschaffen ihm nun jene Erfolgserlebnisse, die er zuvor im Spiel gefunden hat. Aber die plötzliche Willenskraft muss nicht von Dauer sein. Rückfälle gehören zur Spielanordnung.
    »Ich habe verschiedene Spielphasen gehabt. Einmal war ich mehrere Jahre ohne jedes Problem, völlig spielfrei. Nachdem ich zigtausend Mark beim Automatenspiel verloren habe und mir die Schulden über den Kopf gewachsen waren, habe ich die Notbremse gezogen und mich offenbart. Ich habe meine Eltern informiert, die sehr verständnisvoll waren, und mir finanziell aus dem Gröbsten herausgeholfen haben. Bei der Bank musste ich damals alle Kreditkarten abgegeben. Miete etc. ging vom Konto ab, für mich blieb nur noch ein Taschengeld. Das ging einigermaßen gut. Es ging wieder los, nachdem ich etwas geerbt hatte. Jetzt sind Sportwetten mein Ding.«
    In der Suchtforschung ist das so genannte problematische Spielverhalten noch ein vergleichsweise junges Thema, das in Deutschland Anfang der Achtzigerjahre vor allem durch Arbeiten des Bremer Psychologen Gerhard Meyer etabliert wurde. Mit seiner Dissertation
Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeiten
– Objekte pathologischen Glücksspiels
hat er im Jahr 1983 nachhaltig auf ein Thema aufmerksam gemacht, das bis dahin öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden war. 34 Es bedarf scheinbar zunächst einer Art gesellschaftlicher Inkubationszeit, ehe soziale Problemlagen allgemein wahrgenommen werden. Die Gemeinschaft ignoriert bedrohliche Belastungen für die Allgemeinheit zwar nicht, aber sie neigt zu Normalisierungen. Dies oder das ist nicht schön, aber es gehört zum Leben. Betriebe man eine Sozialgeschichte der Sucht, fiele auf, dass sich die sozialen Instanzen stets abwartend und zögerlich zum Suchtphänomen |163| verhalten, als gebe es ein unausgesprochenes Vertrauen auf vielfältige Kräfte zur Selbstheilung. Der problematische Gegenstand wird von der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit nicht fixiert, aber im Auge behalten. Obwohl die Gefahren der Trunksucht seit Jahrtausenden bekannt sind, hat sich erst sehr spät als gesellschaftliche Erkenntnis durchgesetzt, dass die Abhängigkeit von Alkohol einem klar zu beschreibenden Krankheitsbild entspricht. Alle sozialen Milieus neigen trotz unterschiedlicher Abgrenzungsversuche dazu, den Trinker als ihresgleichen zu betrachten. Er gehört dazu, solange er nicht aus der Rolle fällt. Und selbst wenn er ausfällig geworden ist, ist die Wiederaufnahmebereitschaft keineswegs gering. Solch ein Verhalten verweist auf die anthropologische Bedeutung gemeinschaftlicher Rauschzustände, die im Prozess der Zivilisation zurückgedrängt worden sind. Eine allgemeine Vorstellung von Willensschwäche erhält so eine Verbindung zu Ritualen, die allenfalls noch in kanalisierten Bahnen ausgeübt werden. Im Kontext von Abhängigkeit und Sucht gilt die Schwäche, der Versuchung nicht widerstehen zu können, als behebbare Normabweichung. Im Übersehen der Folgen für die Betroffenen drückt sich weniger eine gesellschaftliche Ignoranz aus als vielmehr das Unbehagen, die Ausfallerscheinungen so­zialer und medizinischer
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