Mein schwacher Wille geschehe
Wahrnehmung solcher Vorgänge eines Gesetzes. Am auffälligsten zeigt sich das Wechselspiel von Abweichung und Anpassung in der Mode, in der Norm und Normverstoß immer wieder neu verhandelt werden. Die inszenatorische |178| Wucht der Mode ist ohne die kokettierende Aufnahme oder Zurückweisung lasterhafter Ausdrucksweisen nicht denkbar. Der ständig einem Wandel ausgesetzte Umgang mit den Lastern findet in der Mode ebenso wie in den Künsten eine Probebühne, auf der Abweichung und Grenzüberschreitung auf ihre normerweiternden Kräfte hin überprüft werden. Längst ist es unmöglich, sich nicht modisch zu verhalten oder mit dieser oder jener Art sich öffentlich zu zeigen, zumindest als modische Aussage wahrgenommen zu werden. Kaum ein Bereich, in dem in den letzten Jahren die Stile der Selbstdarstellung nicht verfeinert worden wären. Wie wir uns kleiden, einrichten oder Nahrung zu uns nehmen, wird über die Bedürfnisbefriedigung hinaus als ein Spiel distinktiver Unterscheidungen inszeniert, wie regelkonform oder nicht es auch ausgetragen werden mag.
Begriffe wie Laster, Willensschwäche oder Tugend müssen im Kontext einer kulturellen Dynamik neu bestimmt werden. Der pädagogisch anmutende Gegensatz von Tugend und Laster hat seine Bedeutung weitgehend verloren. Es gibt keinen Kanon klar umrissener Verhaltensweisen, die man ohne Einschränkung tugendhaft nennen könnte. Wer die Laster hingegen nur als auszumerzende Untugenden auffasst, verkennt deren schöpferische Energien. Das wiederum darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein qualitatives Gefälle in den Erscheinungsformen dessen gibt, was wir als Laster bezeichnen. Der Raucher wird in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen als einer, dessen Körpergeruch nicht sofort der Gewohnheit des Nikotinkonsums zuzurechnen ist. Am Erscheinungsbild des Körpers in der Öffentlichkeit jedenfalls lässt sich das zunächst paradox erscheinende Verhältnis von Selbstmodellierung und Verwilderung genauer beobachten.
Wenn man den Blick erst einmal dafür geschärft hat, wie Menschen beispielsweise Flüssiges zu sich nehmen, dann gerät das Beobachten der Getränkeaufnahme im öffentlichen Raum bald zu einem Feldversuch über unbekannte Kulturtechniken. Plastikflasche, |179| Thermo-Becher, Pappbehältnis mit Überschwappdeckel – auf die Möglichkeiten zum Getränketransport scheinen in den letzten Jahren beträchtliche industrielle Energien verwandt worden zu sein. Für die Kinder werden eigens stoßfeste, wieder verschließbare Saftflaschen mitgeführt, deren Verschlusstechniken dem Radrennsport entlehnt sind. Manche Kinder verstehen es, beim Nuckeln an den Pfropfen derart sportiv professionell dreinzuschauen, dass man nach den ersten Schlucken umgehend eine frivole Siegesgeste erwartet. Galt es früher mindestens als unschicklich, in der Öffentlichkeit zu trinken, so erscheint die Getränkeaufnahme inzwischen als ein weites Feld sozialer Differenzierung. Tatsächlich haben sich nicht nur die gesellschaftlichen Einstellungen zum öffentlichen Trinken geändert, sondern auch die ernährungswissenschaftlichen Annahmen. Das macht es schon aus objektiven Gründen schwer, klare Regeln zu benennen, an die sich jene nach Kräften zu halten versuchen, die man früher als tugendhaft beschrieben hätte. Die regelmäßige Flüssigkeitsaufnahme ist längst ein gesundheitspolitisches Gebot, aber an der Art des Trinkens wird nicht zuletzt sichtbar, wo einer steht und wie es um ihn bestellt ist. Und wo noch immer in Gemeinschaft getrunken wird, toben erstaunliche Kämpfe der Selbstinszenierung, in denen sogar das alte Genussmittel Kaffee in neuen Behältnissen auf erstaunliche Weise reüssiert.
So feiert sich beim »Coffee-to-go« die neue Kohorte der Jobinhaber. Zu geschäftig, sich für einen Moment hinzusetzen, will man die unbegrenzte Vielfalt der Kaffeekreationen sichtbar auf dem Tablett davontragen. Es geht um mehr als bloßen Koffeingenuss, der den Geist wachhält für die Herausforderungen des Jobs. Weit davon entfernt, wie das Rauchen als schädliche Gewohnheit identifiziert zu werden, ist Kaffeetrinken ein bedeutendes Individualisierungsmerkmal. Schon am Tresen muss sich erweisen, was für ein Kaffeetyp man ist. Man hat die Wahl, aber man muss sie auch souverän vortragen können. An beinahe jedem Counter |180| erfolgt heute nach einer annoncierten Bestellung die Frage nach einer weiteren Angebotsverfeinerung. Mit oder ohne, eingepackt oder direkt. Die hohe Kunst des
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