Mein skandaloeser Viscount
zu haben, dass die Ärzte dem Schwerkranken einen Beruhigungstrank verabreichten. Sie hätte es vorgezogen, wenn ihr Vater nicht an der Trauung teilgenommen hätte, aber ihr Onkel hatte eisern darauf bestanden.
Der betagte Priester, vor dem sie und Remington standen, unterbrach seine Gelöbnisformel und warf einen ratlosen Blick zu ihrem Vater hinüber.
Mit vereinten Kräften hielten ihr Onkel und Grayson den Earl fest, der zornig um sich schlug und versuchte, sich aus seinem Stuhl aufzurappeln. Mr Parker, auf dessen Stirn sich glänzende Schweißperlen gebildet hatten, durchquerte eilig den Salon, um den beiden beizustehen.
Victoria kniff die Augen zusammen, um weder den Priester, Remington noch die anderen Anwesenden sehen zu müssen.
Dies war keine Hochzeitsfeier, sondern eine Hinrichtung.
Sie drängte ihre Tränen zurück.
„Der Teufel soll euch alle holen!“, schrie der Earl, lauter und dröhnender als zuvor. „Fahrt zur Hölle!“
Victoria hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu, um sein Grölen nicht mehr hören zu müssen, wusste nicht, mit welchen Horrorvisionen sein verwirrter Geist ihn peinigte.
Kräftige Arme umfingen sie und gaben ihr Halt. Sie leistete keinen Widerstand, als Remington ihre Wange sanft an seine breite Brust drückte.
Der Duft von Minze, Seife und Haartonikum, der seiner bestickten Weste entströmte, beschwichtigte sie ein wenig. Mit einem tiefen, lange aufgestauten Seufzen ließ sie die Hände sinken, schmiegte sich an Jonathan, genoss seine wohltuende Wärme und fühlte sich geborgen. Sie hatte beinahe vergessen, wie es war, von starken Armen gehalten und getröstet zu werden.
„Es reicht!“ Remingtons feste sonore Stimme drang in ihre Benommenheit. „Ich dulde nicht länger, dass meine Braut dies ertragen muss und ersuche dringend, den Earl aus dem Salon zu entfernen. Und Sie“, er blickte zum Priester, „erklären unsere Trauung für vollzogen.“
Victoria schluckte mühsam, bewunderte insgeheim Remingtons Fürsorge und Beherztheit. In allem, was er tat, legte er große Leidenschaft an den Tag. Auch seine sündigen Verführungskünste waren von einer sengenden Glut, die alles verbannte. Einschließlich ihrer Person.
Der Priester räusperte sich. „Sie sind nun im heiligen Bund der Ehe verbunden, Mylord. Gott segne dieses Bündnis. Die Kirchengemeinde wird …“
„Josephine!“ , kreischte ihr geistig umnachteter Vater. „Um Gottes willen, warum? Warum?“
Victoria zerriss es das Herz, als sie den Namen ihrer verstorbenen Mutter hörte. Ein Name, der ihrem Vater seit Jahren nicht über die Lippen gekommen war. Sie konnte ihren Tränen nicht länger Einhalt gebieten und schluchzte an Remingtons Brust. Wieso erinnerte er sich an die Toten und nicht an die Lebenden?
Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihren Bräutigam, wünschte sich sehnlichst, diesem Irrsinn entfliehen zu können, aus dem es kein Entrinnen gab.
Remington hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel und schlang die Arme inniger um sie.
Es war alles zu viel. Nichts war von Dauer. Alles verging, um nie wiederzukehren. Und bald würde auch Remington wieder aus ihrem Leben verschwinden.
Victoria versuchte sich aus seiner Umarmung zu befreien, suchte Abstand von der Flut der Gefühle, die über sie hereinbrach. Sie taumelte rückwärts, fühlte sich plötzlich schwerelos; der gelbe Salon verschwamm in grellem Licht.
Sie versuchte, den Blick auf Remingtons Gesicht zu richten, das im weißen Nebel schwamm. Der Boden unter ihren Füßen gab nach und alles verlöschte.
Jonathans Herz machte einen erschrockenen Satz. Gerade noch rechtzeitig streckte er die Arme aus und fing Victoria auf. Ihre zierliche Gestalt knickte ein, sank gegen ihn, und ihr blonder Kopf sackte nach vorne. Erst jetzt wurde Jonathan klar, dass sie in Ohnmacht gefallen war.
„Victoria!“ Er schob die Hände in die Fülle ihres champagnerfarbenen Seidenkleides, hob sie hoch und bettete ihre Wange an seiner Brust.
Das verrückte Gebrüll des Earls war nur noch ein ohrenbetäubendes Dröhnen in seinem Kopf. Er neigte sich über sie. „Schau mich an, Victoria. Sprich mit mir. Bitte sag etwas.“
Ihr Kopf rollte an seine Schulter, aus ihrem blonden Chignon löste sich eine Maßliebchenblüte und flatterte zu Boden. Ihre Lider flogen auf, allmählich kehrte wieder Farbe in ihr bleiches Antlitz. Mühsam bewegte sie den Kopf, ihr verschwommener Blick klärte sich und fixierte Jonathans Gesicht mit wiedergewonnener
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