Mein skandaloeser Viscount
Händen mehr als irgendetwas sonst. „Was ist?“
„Es tut mir leid. Es tut mir aufrichtig leid.“
Er bemühte sich, sachlich zu bleiben, obgleich ihm das Herz bis zum Hals klopfte. „Was denn?“
„Ich wollte dich nicht herablassend behandeln. Ehrlich nicht. Ich habe lediglich das Gefühl, dass ich mit jedem Verlust, den ich erleide, einen Teil von mir verliere. Es gibt Momente, in denen ich nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin.“
Er blickte forschend in ihr bleiches Gesicht, verwundert über ihre ungeahnte Offenheit. „Victoria. Glaube mir, ich verstehe mehr, als du vielleicht ahnst. Du musstest dich an bedeutsame Veränderungen gewöhnen. An die Krankheit deines Vaters, seinen nahen Tod, an mich, unsere Heirat und an die Erwartungen, die an dich gestellt werden. Auch ich war gezwungen, mich völlig neuen Situationen anzupassen, und ich gestehe, dass es eine überwältigende Herausforderung für mich war und ist, wieder frei zu sein und dich zur Gemahlin zu bekommen.“
Sie strich immer noch fahrig über die Bettdecke. „Wie hast du es nur all die Jahre ausgehalten, bei diesem widerlichen Mann zu bleiben? Hast du je daran gedacht … zu fliehen? Hast du es versucht?“
Er ließ die Blüten zu Boden fallen und versuchte, seine Gefühlsaufwallung zu beherrschen. „Ich hatte es mit einer Bestie zu tun, keinem menschlichen Wesen. Über ihn kursierten so viele schaurige Gerüchte, dass er zum Schreckgespenst für mich wurde. Kurz bevor ich in seine Dienste trat, verschwand ein hübsches junges Hausmädchen spurlos, vermutlich weil sie sich weigerte, das Bett mit ihm zu teilen. Kein Mensch hat je erfahren, was ihr zugestoßen ist, und alle Nachforschungen ihrer Familie blieben vergeblich. Es gab eine Reihe grausiger Verbrechen, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Die Leiche eines Neugeborenen wurde aus der Lagune gefischt, und man munkelte, es handelte sich um das Kind einer seiner zahllosen Geliebten. Auch wenn man nicht allen Gerüchten glauben darf, so hatte ich keinen Zweifel daran, dass sie im Falle des marchese der Wahrheit entsprachen. Ein paar Monate, nachdem ich mit der Arbeit bei ihm begonnen hatte, heiratete Cornelia und war kurz darauf schwanger. Dadurch verschärfte sich meine Situation und band mich noch mehr an meinen Vertrag. Nun musste ich nicht nur an sie denken, sondern auch an ihre neue Familie.“
„Hast du Cornelia je erzählt, was du erlebt ist?“
„Nein. Niemand weiß davon. Nur Grayson und jetzt du, und ich bitte dich inständig, es dabei zu belassen. Ich möchte auf keinen Fall, dass Cornelia davon erfährt. Sie würde nur in Gewissensnöte geraten. Letztlich trennte ich mich von den Casacalendas im guten Einvernehmen. Ohne die Fürsprache der marchesa wäre ich jetzt nicht in London. Sie korrespondierte mit deinem Vater, sprach sich wohlwollend über meine Erfolge in der venezianischen Gesellschaft aus und überzeugte ihn davon, mir die Chance einzuräumen, um deine Hand anzuhalten. Sie wusste, wie viel du mir bedeutest, und für ihre Fürsprache bin ich ihr sehr dankbar.“
Victoria beobachtete ihn aufmerksam. „Hat man dich schlecht behandelt? Abgesehen davon, dass du gezwungen warst …“ Sie beendete den Satz nicht.
Jonathan zögerte, es gab noch so vieles, was er ihr verschwiegen hatte. Aber er war fest entschlossen, sich und Victoria zu beweisen, dass seine Seele die erlittenen Demütigungen schadlos überstanden hatte. „Nicht in der Form, wie du denken magst. Ich bemühte mich zwar, dem marchese möglichst aus dem Weg zu gehen, der mir eine Heidenangst einjagte, aber die marchesa war gut zu mir. Sie bildete sich ein, in mich verliebt zu sein, wobei sie mit mir nie wie mit einem Liebhaber umging. Ich war mehr so etwas wie ein Schmuckstück für sie, mit dem sie sich gern in der Gesellschaft zeigte.“
„Kanntest du sie, bevor du deinen Dienst angetreten hast?“
Er räusperte sich. „Ja. Sie, ähm … sie war eng befreundet mit der Familie, in die Cornelia ursprünglich einheiraten sollte. Die marchesa und meine Stiefmutter wurden Freundinnen. Sehr gute Freundinnen. Sie war wesentlich älter als ich, hatte zu ihrem Leidwesen mehrere Fehlgeburten erlitten und keine eigenen Kinder. Als sie mir die Stellung in ihrem Haus anbot, mit der ich meine Schulden begleichen konnte, glaubte ich zunächst, sie habe Zuneigung zu mir gefasst wie zu einem Sohn, der ihr nie gegönnt war. Bald musste ich jedoch feststellen, dass sie mich lediglich zu ihrer
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