Mein skandaloeser Viscount
sie hat recht behalten.“
Wieder begann Victoria, über die Bettdecke zu streichen, den Blick auf ihre Hand gerichtet. „Was auch geschieht, Remington, mein Platz wird immer bei meinem Vater sein. Ich hoffe, das siehst du ein.“
Ihre Worte versetzten ihm einen Schlag in die Magengrube, er ließ sich seine Enttäuschung indes nicht anmerken. „Du brauchst mehr als nur die Gesellschaft eines sterbenden Mannes. Was willst du mit deinem Leben anfangen, wenn dein Vater einmal nicht mehr ist? Hast du daran gedacht? Du brauchst mich. Du brauchst mich, der sich um dich kümmert, und das ist meine felsenfeste Absicht. Aber das wird in Venedig sein. Nicht hier.“
Aufgebracht funkelte sie ihn an. „Glaube bloß nicht, du könntest über mein Leben bestimmen, nur weil wir verheiratet sind. Und hör auf, so zu tun, als hätte ich dir irgendwelche Zugeständnisse gemacht. Dem ist nämlich nicht so.“
Auch diese Worte trafen ihn wie Nadelstiche. Er befürchtete, es würde ihm nie gelingen, zu ihr durchzudringen. „Verzeih, dass ich den Wunsch habe, dein Herz für mich zu erwärmen.“
Er erhob sich, griff in die Tasche seines Gehrocks, holte sein Geschenk hervor, das er in ein Spitzentuch gehüllt hatte, und legte es auf die Bettdecke. „Mein Hochzeitsgeschenk. Leider konnte ich es nicht hübsch verpacken, dafür blieb keine Zeit.“ Er umrundete das Bett, begab sich zur Tür und öffnete sie.
„Remington“, rief Victoria und richtete sich zum Sitzen auf. Flint streckte sich gähnend.
Jonathan drehte sich zu ihr um. „Was?“
„Entschuldige“, sagte sie leise. „Ich wollte nicht grausam sein. Sei mir bitte nicht böse.“
„Ich bin dir nicht böse. Nur enttäuscht. Du bist weit mehr als diese leere Hülle einer Frau, in die du dich verwandelt hast. Wenn ich dir heute zum ersten Mal begegnete, würdest du mich vermutlich kalt lassen. Nun … ruh dich aus. Ich wecke dich, wenn es Zeit zur Abreise ist.“ Er zog die Tür hinter sich zu. Im Flur atmete er tief durch und starrte auf die Türfüllung. Wieso hatte er plötzlich das dumpfe Gefühl, dass ihm tatsächlich nur ein einziger Monat mit ihr gegönnt war?
Unter diesen Umständen war es nötig, ganz von vorne anzufangen, um einander näherzukommen. Es galt, nicht nur Victorias Vertrauen wiederzugewinnen, sondern auch sein Selbstvertrauen. Zunächst mussten sie wieder Freunde werden, um Liebende werden zu können. Wenn sie das nicht schafften, war ihre Beziehung zum Scheitern verurteilt, bei allen Zweifeln und dem Argwohn, die Victoria innerlich zerfressen hatten. Ehe sie sich nicht entschließen konnte, ihm ganz und gar zu gehören, durfte er nichts von ihr fordern. Keine Berührung und ganz gewiss keinen Kuss.
Flint umrundete Victoria schweifwedelnd, kuschelte sich an ihre Beine und schloss wohlig brummend die Augen. Ach, wäre sie nur ein Hund. Das Leben wäre so angenehm einfach, solange es einen vollen Futternapf, einen behaglichen Schlafplatz und gelegentliches Ohrenkraulen gab.
Seufzend wandte Victoria sich dem rechteckigen flachen Ding zu, das Remington auf ihr Bett gelegt hatte. Zögernd nahm sie es zur Hand, entfaltete das Spitzentuch, unter dem ein Buch zum Vorschein kam. Nicht irgendein Buch: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders von Daniel Defoe.
Tränen brannten ihr in den Augen.
Der einzige Roman von Defoe, den sie nicht gelesen hatte. Vor Jahren hatte sie Grayson einen ganzen Sommer mit der Bitte in den Ohren gelegen, ihr dieses Buch zu besorgen. Er aber hatte sich vehement geweigert, mit der Begründung, die skandalöse Geschichte sei keine geeignete Lektüre für ein junges Mädchen. Und … Remington hatte sich daran erinnert, obgleich sie ihren Wunsch völlig vergessen hatte. Wie war das möglich?
Eine Träne kullerte ihr über die Wange, die sie mit zitternden Fingern wegwischte. Mit siebzehn hatte sie sich sehnlichst gewünscht, die Welt zu bereisen und all die Städte und Länder zu sehen, über die sie in den Büchern gelesen hatte, die Mrs Lambert stapelweise vor ihr auftürmte. Metropolen wie Madrid, St. Petersburg, Kapstadt, Paris, New York, Rom und … Venedig. Allen voran Venedig. Sie hatte sich gewünscht, hinaus in die Ebene zu fahren und an allen Bäumen entlangzuspazieren, in deren Rinde Remington ihren Namen geritzt hatte. Sie hatte sich gewünscht, den ganzen Tag in einer Gondel zu fahren und die herrlichen Prachtbauten der Lagunenstadt an sich vorüberziehen zu lassen.
Mit siebzehn hatte sie es kaum
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